Charles Dickens: Der Mann, der Weihnachten erfand (The Man Who Invented Christmas) (Regie: Bharat Nalluri, 2017)

Am 9. Juni 2020 gedenken wir des 150. Todestages des viktorianischen Schriftstellers Charles Dickens. Das ist ein guter Anlass, auf diesem Blog die Reihe zu seinem Werk fortzuführen. Ich hatte in der Vergangenheit, vor allem 2012 zum 200. Geburtstag von Dickens, Beiträge zu Dombey und Sohn (Dombey and Son), zu Harte Zeiten (Hard Times), zu Unser gemeinsamer Freund (Our Mutual Friend) und zur Weihnachtsgeschichte (A Christmas Carol) veröffentlicht. Auch habe ich Fachartikel zu Edwin Drood geschrieben (als Teil meiner Monografie Vision and Character), zu Dickens‘ Kurzgeschichte „Hunted Down“ (veröffentlicht in Dickens Studies Annual 48) und zu seinen journalistischen Beiträgen als „Uncommercial Traveller“ (in dem Sammelband Palimpsestraum Stadt) (tut mir etwas Gutes und empfehlt diese Bücher den Bibliothekar*innen Eures Vertrauens!). Auch habe ich viel Dickens an der Uni unterrichten und auf der Jahrestagung der Dickens Society 2018 über Dickens vortragen dürfen. Kurz: Dickens begleitet mich weiterhin in meinem Alltag und in meinem Berufsleben, so dass ich dachte, es sei mal wieder an der Zeit, zu ihm zu schreiben und an die o.g. Reihe anzuknüpfen. Genauer: An Die Weihnachtsgeschichte, die zu den berühmtesten Werken des Autors zählt. Kein Wunder also, dass der Text vielfach verfilmt wurde und die Entstehungsgeschichte von A Christmas Carol selbst sogar Gegenstand eines Films geworden ist: The Man Who Invented Christmas. Eine Künstlerkomödie für die ganze Familie, was zum Lachen, was zum Weinen, und jede Menge Anspielungen für Dickens-Fans.

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Hans Scherfig: Der verschwundene Kanzleirat (1938) – Welche Unfreiheit hätten Sie denn gerne?

Ein neues Leben beginnen, ganz weit weg vom Alltagstrott des bisherigen. Frau, Sohn, Arbeit und Großstadt tauschen gegen Einsamkeit, Ruhe, Hobby und Landleben. Das klingt nach einer wundervollen Idee, denkt sich der Kanzleirat Teodor Amsted im Roman Der verschwundene Kanzleirat (Den forsvundne fuldmægtig; 1938) des dänischen Schriftstellers Hans Scherfig (1905-1979). Dass das Leben nicht so ist wie in den Romanen, ist eine Erfahrung, die ironischerweise Romanfiguren sehr häufig machen. So auch Kanzleirat Amsted, dessen Traum vom freien Leben sich schnell als Albtraum entpuppt. Weiterlesen

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W. Somerset Maugham: Ashenden oder Der britische Geheimagent (1928)

w-somerset-maugham-ashenden-britische-geheimagent-1928-coverHier erzählt jemand, der weiß wie es wirklich war, jetzt erfahren wir, wie das Leben eines Geheimagenten zur Zeit des Ersten Weltkriegs aussah. Die ungeschönten Tatsachen berichtet von einem, der zugleich Schriftsteller und Geheimdienstagent für den Military Intelligence, Section 6 (MI6) war. William Somerset Maugham, von dem hier die Rede ist, hatte im September 1915 seine Geheimdiensttätigkeit aufgenommen und – ganz wie die Hauptfigur der Ashenden-Erzählungen – zunächst in der Schweiz, später in Russland gedient. Sein weltweiter Ruhm als Schriftsteller half ihm dabei, keinen Verdacht zu erregen – er konnte vorgeben, für einen neuen Roman oder ein neues Theaterstück in der Schweiz und in Russland zu recherchieren. Also: Die ungeschönten Fakten. Doch, so der Autor im Vorwort zu seiner Erzählungssammlung Ashenden oder Der britische Geheimagent aus dem Jahre 1928: Fakten sind schlechte Geschichtenerzähler. Ist Ashenden also eine wahre Schilderung des Agentenlebens (und damit möglicherweise eine schlechte Geschichte)? Oder ist Ashenden vielmehr eine gute Geschichtensammlung, die in Kauf nimmt, dass sie mit dem wahren Leben eines Geheimagenten im Ersten Weltkrieg nicht mehr viel gemeinsam hat? W. Somerset Maughams Aufgabe ist fraglos keine leichte gewesen und so verwundert es nicht, dass er den Band erst zehn Jahre nach Ende des Krieges veröffentlichte.
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Alain Badiou: Versuch die Jugend zu verderben (2016)

alain-badiou-versuch-die-jugend-zu-verderben-2016Dieser Essay – um einen solchen handelt es sich bei Alain Badious Versuch, die Jugend zu verderben nämlich – löst ein zentrales Versprechen nicht ein: Hier wird niemand verdorben, und schon gar nicht die Jugend. Insbesondere nicht in dem engen Wortsinne, „durch sein schlechtes Vorbild (besonders in sittlich-moralischer Hinsicht) negativ beeinflussen“ (Duden). In seinem Essay gibt Badiou kein schlechtes Vorbild. Er orientiert sich vielmehr an einem Philosophen, dem vorgeworfen wurde, ein schlechtes Vorbild gewesen zu sein: an Sokrates. Dem war 399 v. Chr. ein Prozess gemacht worden, in dem es unter anderem zu dem Vorwurf durch den Ankläger Meletos kam, er verderbe die Jugend (siehe dazu Platons Apologie des Sokrates, Kap. 11-14). Das Ende der Geschichte kennen wir. Auch wenn es Sokrates gelang, diesen speziellen Vorwurf zurückzuweisen, wurde er letztlich zum Tode verurteilt und starb kurz darauf durch den Schierlingsbecher. Das philosophische Projekt, das Badiou in seinem Essay entwirft, tritt erklärtermaßen in die Fußstapfen des großen griechischen Denkers und der französische Philosoph betrachtet es als seine Aufgabe, ebenfalls die Jugend zu verderben. Das wirft gleich zu Beginn zwei Probleme auf: In seiner Apologie gegen die Anschuldigungen des Meletos versteht es Sokrates auf brillante Weise, die Vorwürfe zurückzuweisen und den Ankläger der Lächerlichkeit preiszugeben, mit anderen Worten: Es gelingt ihm zu beweisen, dass er die Jugend gerade nicht verdorben habe. Und zudem schwingt im altgriechischen διαφθείρειν (diaphtheírein) neben dem oben zitierten schlechten (sittlich-moralischen) Einfluss auch die völlige Zerstörung und das Töten mit (welche im deutschen Substantiv „das Verderben“ noch präsent sind – siehe Grimms Wörterbuch). Zwar geht Sokrates auf diese in seiner Verteidigungsrede nicht ein (er fragt lediglich nach, ob Meletos ihm vorwerfe, dass er, Sokrates, „lehre, die Götter nicht zu glauben, welche der Staat glaubt, sondern allerlei Neues, Daimonisches“ – worin möglicherweise ein gefährliches, destruktives Potential zu erahnen sein könnte), aber Meletos muss gewusst haben, dass ein starker Begriff wie diaphtheírein vor Gericht unzweifelhaft ein schlechtes Licht auf Sokrates werfen würde. Wenn Badiou also dieses philosophiegeschichtliche Ereignis als Ausgangspunkt für seine Überlegungen nimmt, warum, lässt sich fragen, übergeht er dann ausgerechnet diese beiden Aspekte? Es sollen, wie sich nach kurzer Lektüre herausstellt, noch weitere Unklarheiten hinzukommen. Weiterlesen

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Neues Geld und alter Adel: Henry James, Die Europäer (Neuübersetzung von Andrea Ott)

henry-james-die-europaeer-neuuebersetzung-2015„Nichts ist mein letztes Wort über irgendetwas – ich bin übersubtil und analytisch.“ So schreibt Henry James in einem Brief vom März 1879 angesichts seines Romans The Europeans (dt.: Die Europäer). Sein älterer Bruder, der Philosoph und Psychologe William James, empfand den Roman keineswegs als das Ergebnis übersubtiler Analysen, sondern verdammte ihn in Bausch und Bogen als „dünn und leer“ (thin and empty). Angesichts des 100. Todestages von Henry James ist der Roman in einer Neuübersetzung von Andrea Ott bei Manesse erschienen, so dass deutsche Leserinnen und Leser sich ein eigenes Bild davon machen können, ob er nun subtil oder dünn, ob analytisch oder leer ist. Weiterlesen

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Von Typen und Thesen: Mirna Funk, Winternähe (2015)

Mirna-Funk_Winternähe_2015Es scheint, als würden die Abstände zwischen aktuellen Ereignissen und deren ästhetischer Aufarbeitung immer geringer. Ob dieser Eindruck den historischen Tatsachen entspricht, müssen Literarhistoriker prüfen. Tatsache bleibt, dass Leserinnen und Leser in der Regel nicht lange auf die Fiktionalisierung einschneidender politischer Ereignisse warten müssen. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 verarbeitete der US-amerikanische Autor Jonathan Safran Foer nur vier Jahre später in seinem erfolgreichen Roman Extremely Loud and Incredibly Close (2005; dt. Extrem laut und unglaublich nah); die Präsidentschaft Barack Obamas ist noch nicht zu Ende, da erscheint das Biopic Southside With You, das Obamas Lebensgeschichte erzählt (2016) und der Gaza-Konflikt von 2014 (Operation Protective Edge) musste kein Jahr darauf warten, zentraler Dreh- und Angelpunkt einer Romanhandlung zu werden. Die Rede ist von Mirna Funks Debütroman Winternähe, der 2015 bei Fischer erschienen ist. Der Roman, der zu etwa gleichlangen Teilen in Berlin, Tel Aviv und in Bangkok spielt, erzählt die Sinnsuche der jungen Berlinerin Lola, Tochter eines jüdischen Vaters und einer nicht-jüdischen ost-deutschen Mutter. Da im orthodoxen Judentum die matrilineare Abstammungsreihe ausschlaggebend ist, sieht sich Lola damit konfrontiert, dass sie von unterschiedlichen Personen nicht als Jüdin anerkannt wird. Nach einem skandalösen Vorfall, mit dem der Roman beginnt – zwei ihrer Kollegen haben ein Bild von ihr mit einem Hitlerbart versehen, fotografiert und auf Facebook geteilt („defacing“ nennt das der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho) – kündigt Lola ihren Job, lebt von den Erträgen ihres Instagram-Accounts und reist schließlich nach Israel, wo sie 2014 im Sommer den Gaza-Konflikt hautnah miterlebt. Lolas Suche nach Sinn in diesem Krieg, nach ihrer eigenen Identität und der Wahrheit ihrer Lebensgeschichte verspricht einen komplexen Roman. Dass Winternähe dieses Versprechen nur selten einlöst, liegt insbesondere an der meinungsstarken Hauptfigur. Die Autorin wirft Lola eine Reihe von Charakteren in den Weg, an denen sich bestimmte Konflikte persönlicher oder politischer Art entzünden können – was bedauerlicherweise ihre Primärfunktion darstellt. Erzählerische Tiefe erhalten die Figuren des Romans auf diese Weise nicht. Vieles in Winternähe bleibt Annäherung. Weiterlesen

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Joseph Conrad, Nostromo (1904)

Joseph Conrad Nostromo PenguinKurz nach dem Zweiten Weltkrief veröffentlichte der große britische Literaturwissenschaftler und -kritiker F.R. Leavis einen schmalen Band mit dem unscheinbaren Titel The Great Tradition. Darin nahm er sich vor, sämtliche Prosaautoren der englischsprachigen Literaturgeschichte näher zu beleuchten, die einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Literatur gehabt hätten. Er kam immerhin auf viereinhalb Autoren: Jane Austen, George Eliot, Henry James und Joseph Conrad. Später fügte er noch einen halben Charles Dickens hinzu, dieser habe mit seinen Romanen keinen festen Platz in Leavis‘ Großer Tradition verdient, wobei der Cambridge-Professor eine Ausnahme zuließ: Hard Times sei Dickens‘ Meisterwerk und sichere ihm letztlich einen (wenn auch eingeschränkten) Platz im illustren Kreis der anderen vier großen Romanciers. Dass Leavis Virginia Woolf, James Joyce, Charlotte Brontë, Laurence Sterne, Henry Fielding, W.M. Thackeray, Daniel Defoe oder Thomas Hardy nicht in seinen Kanon mitaufnahm dürfte allein schon verwundern. Doch damit waren die Merkwürdigkeiten bei weitem noch nicht zu Ende. Die Auswahl der jeweiligen Romane, die er bei den vier(einhalb) Autorinnen und Autoren traf, sorgte damals wie heute für Verwunderung. So befand Leavis, dass es sich bei Conrads wohl bekanntestem Werk, Heart of Darkness, um ein Prosastück minderer Qualität handele, während Conrads wahrhaft großer Beitrag zur englischen Literatur zwei hierzulande eher unbekanntere Romane seien: The Secret Agent und Nostromo. Während ersterer bei Reclam, Manesse und Diogenes sowie seit 2015 auch als Hörbuch bei Der Audio Verlag erhältlich ist (gelesen von Jürgen Holtz), liegt Nostromo zwar in deutscher Übersetzung vor, wird aber derzeit nicht aufgelegt. Interessierte Leser müssen ihn also entweder antiquarisch erwerben oder eine der zahlreichen 99-Cent-Kindle-Ausgaben herunterladen, die auf Amazon kursieren. Und dieser Roman, der im deutschsprachigen Roman im Grunde völlig unbeachtet geblieben ist, soll also der große Beitrag Conrads zur Weltliteratur sein? Der Roman eines in England lebenden und auf Englisch schreibenden Polen, dessen Handlung in einer fiktiven (nach Kolumbien modellierten) südamerikanischen Republik spielt? Hier ein Blick auf Conrads Nostromo. Weiterlesen

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Umberto Eco, „Nullnummer“ (2015), oder: „Das Foucaultsche Pendel“ light

umberto-eco-nullnummer-2015Vor 28 Jahren erschien der Roman Das Foucaultsche Pendel des damals 56 Jahre alten italienischen Schriftstellers Umberto Eco. Darin spürten drei befreundete Verlagsmitarbeiter einer die Welt über Jahrhunderte umspannenden Mega-Verschwörung nach, wobei ihnen ihre Recherchen zusehends entgleiten. Der Roman setzt damit ein, dass der Ich-Erzähler Casaubon (zu seinem Namen siehe den Artikel über George Eliots Middlemarch) sich im Pariser Musée des Arts et Métiers vor Tempelrittern versteckt, die bereits seinen Freund Jacopo Belbo erwischt haben und nun ihm auf der Spur sind. Die eigentliche Romanhandlung des Foucaultschen Pendels, die sich über mehrere hundert Seiten erstreckt, wird von diesem festen Punkt im Museum aus – fixiert wie von einem Pendel Foucaults – in Rückblenden erzählt. So viel zum Jahr 1988. Wir schreiben das Jahr 2015. Ein neuer Roman Umberto Ecos erscheint. Er trägt den Titel Nullnummer und ist, anders als Das Foucaultsche Pendel, von schlankem Umfang. Der Roman beginnt damit, dass der Ich-Erzähler an einem Morgen feststellt, dass nachts jemand in seiner Wohnung gewesen sein muss, um etwas zu suchen. Diese Eindringlinge seien, so die Meinung des Erzählers, überzeugt „dass ich, sollte ich etwas über die Sache mit Braggadocio wissen, darüber irgendwo etwas geschrieben haben müsste.“ Er hat Todesangst und verschanzt sich darum in seiner Wohnung – und erinnert sich: „Die Angst zu sterben belebt die Erinnerung“, wie es im letzten Satz des ersten Kapitels heißt. Der folgende Roman erzählt dann in Rückblenden, wie der Ich-Erzähler Colonna ein Jahr lang ein Buch über die Arbeit an einer sogenannten Nullnummernserie schreiben soll, also einer Reihe von Zeitungsausgaben, die nicht veröffentlicht werden und nur den Verleger überzeugen sollen, dass er die Zeitung tatsächlich verlegt. Einer seiner Kollegen, besagter Braggadocia, kommt bei seinen Recherchen einer spektakulären Verschwörung auf die Schliche, die die Geschichte des 20. Jahrhunderts neu schreibt, und die Mussolini und den Papst ebenso betrifft, wie die Regierungen von einem Dutzend Westmächte. Klingt bekannt? Ja, denn es ist eine Art Light-Version von Ecos zweitem Roman, Das Foucaultsche Pendel. Nur mit mehr Politik und weniger Mystik. Kurz: Der Verschwörungsinhalt hat gewechselt, der narrative Rahmen ist geblieben. Postmodernes Selbstzitat oder Einfalllosigkeit? Weiterlesen

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„Ich singe, was ich seh'“: Jochen Distelmeyers Debütroman „Otis“ (2015)

jochen-distelmeyer-otisJochen Distelmeyer. Blumfeld. Sänger. Pop-Kultur. Diskurspop. Debütroman. Hamburger Schule. Mit diesen und ähnlichen Begriffen sowie unter Zuhilfenahme von diversen Rezensionen zu Otis ließe sich ohne Mühe ein Bingo-Spiel erstellen: Wann immer die gelesene Kritik einen dieser Begriffe nennt, kreuzt man sie auf seinem Bingo-Kärtchen ab. Wer zuerst fünf in einer Reihe hat, darf „Bingo!“ rufen und sich seinen Preis abholen. Um welche der zahlreichen Kritiken es sich dabei handelt, spielt keine Rolle, ob Welt (Frédéric Schwilden, 26.1.15), ZEIT (Diedrich Diederichsen, 12.2.15), Spiegel (Tobias Rapp, 24.1.15), Berliner Morgenpost (Julia Friese, 29.1.15), Tagesspiegel (Gerrit Bartels, 30.1.15), Rheinische Post (Philipp Holstein, 30.1.15), SZ (Johan Schloemann, 30.1.15), Die Tageszeitung (Elise Graton, 31.1.2015), FAZ (Jan Wiele, 31.1.15) oder RBB (Tim Evers, 29.1.15). Natürlich ist die Erwartung immer groß, wenn jemand sein Fach wechselt. Sei es der ehemalige Nationaltorhüter Tim Wiese, der Wrestler wurde (oder wird, so genau weiß das keiner), sei es Arnold Schwarzenegger, der zum Politiker wurde, sei es Clint Eastwood, der vom Schauspieler zum Regisseur wurde oder sei es der legendäre Eddie the Eagle, der es, um bei Olympia teilnehmen zu dürfen, in verschiedenen Disziplinen versuchte, darunter Judo, Pferdereiten und Volleyball, bevor er schließlich als schlechtester Skispringer aller Zeiten Geschichte schrieb. Fachwechsler faszinieren, weil sie der zeittypischen Vorstellung vom gedrillten Fachidioten, dem One Trick Pony, widersprechen. Sie versprechen uns nicht nur, dass wir alles werden können, sondern auch, dass wir das mehrfach können. Und wenn dem Fachmann der Fachwechsel misslingt – Tim Wiese war und ist ebenso wenig ein guter Wrestler, wie Schwarzenegger ein guter Politiker, Eastwood ein guter Regisseur oder Eddie ein guter Skispringer – dann fühlen wir, die wir in keinem einzigen Fach reüssieren, uns immerhin nicht mehr ganz so schlecht. Nun schreibt Jochen Distelmeyer, einer der bekanntesten deutschen Liedermacher und ehemaliger Sänger der Hamburger Band Blumfeld, die bekannt für ihren Diskurspop war, einen Roman („Bingo!“). Kann er das? Und alle Rezensenten sind am Ende ein wenig erleichtert: Nein, kann er nicht. Zumindest nicht so gut wie Songs schreiben. Weiterlesen

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Abschließen nicht vergessen: Thomas Hürlimanns Novelle „Fräulein Stark“ (2001)

thomas-huerlimann-fraeulein-stark-novelleVon barocker Fülle ist die Sprache in der 2001 erschienenen Novelle Fräulein Stark des Schweizer Schriftstellers Thomas Hürlimann. Die Sprache ist dem Inhalt der Novelle angemessen, spielt diese doch im „schönsten nicht-kirchlichen Barockraum der Schweiz“, wie es auf der Webseite des Stiftsbibliothek St. Gallen heißt. Denn, es handelt sich, wie die zahllosen Rezensionen nach Veröffentlichung der Novelle nicht zu betonen müde wurden, um einen Schlüsselroman. Dieses Unwort, das auch im Französischen (roman à clef), bemerkenswerterweise jedoch nicht im Englischen existiert, bezeichnet einen Roman, zu dem es einen Schlüssel gibt. Diese sind monofunktionale Werkzeuge: Sie schließen stets auf, nie zu, und das ist ein großes Pech. Denn wer den passenden Schlüssel für Hürlimanns Novelle gefunden hat – seine eigenen Erlebnisse als Junge im Stift unter seinem Onkel, dem Stiftsbibliothekar Johannes Duft (im Roman Jacobus Katz) – der kann diese Tür nicht mehr zuschließen. Und das ist angesichts der barocken Vielfalt der Novelle tragisch, die doch als wiederkehrendes Motto Nomina ante res ausgibt: Die Worte vor den Dingen. Einmal aufgeschlossen, schieben sich die (durchaus profanen) Dinge vor die Worte und vorbei ist es mit dem barocken Prachtgenuss. Weiterlesen

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