„Ich singe, was ich seh'“: Jochen Distelmeyers Debütroman „Otis“ (2015)

jochen-distelmeyer-otisJochen Distelmeyer. Blumfeld. Sänger. Pop-Kultur. Diskurspop. Debütroman. Hamburger Schule. Mit diesen und ähnlichen Begriffen sowie unter Zuhilfenahme von diversen Rezensionen zu Otis ließe sich ohne Mühe ein Bingo-Spiel erstellen: Wann immer die gelesene Kritik einen dieser Begriffe nennt, kreuzt man sie auf seinem Bingo-Kärtchen ab. Wer zuerst fünf in einer Reihe hat, darf „Bingo!“ rufen und sich seinen Preis abholen. Um welche der zahlreichen Kritiken es sich dabei handelt, spielt keine Rolle, ob Welt (Frédéric Schwilden, 26.1.15), ZEIT (Diedrich Diederichsen, 12.2.15), Spiegel (Tobias Rapp, 24.1.15), Berliner Morgenpost (Julia Friese, 29.1.15), Tagesspiegel (Gerrit Bartels, 30.1.15), Rheinische Post (Philipp Holstein, 30.1.15), SZ (Johan Schloemann, 30.1.15), Die Tageszeitung (Elise Graton, 31.1.2015), FAZ (Jan Wiele, 31.1.15) oder RBB (Tim Evers, 29.1.15). Natürlich ist die Erwartung immer groß, wenn jemand sein Fach wechselt. Sei es der ehemalige Nationaltorhüter Tim Wiese, der Wrestler wurde (oder wird, so genau weiß das keiner), sei es Arnold Schwarzenegger, der zum Politiker wurde, sei es Clint Eastwood, der vom Schauspieler zum Regisseur wurde oder sei es der legendäre Eddie the Eagle, der es, um bei Olympia teilnehmen zu dürfen, in verschiedenen Disziplinen versuchte, darunter Judo, Pferdereiten und Volleyball, bevor er schließlich als schlechtester Skispringer aller Zeiten Geschichte schrieb. Fachwechsler faszinieren, weil sie der zeittypischen Vorstellung vom gedrillten Fachidioten, dem One Trick Pony, widersprechen. Sie versprechen uns nicht nur, dass wir alles werden können, sondern auch, dass wir das mehrfach können. Und wenn dem Fachmann der Fachwechsel misslingt – Tim Wiese war und ist ebenso wenig ein guter Wrestler, wie Schwarzenegger ein guter Politiker, Eastwood ein guter Regisseur oder Eddie ein guter Skispringer – dann fühlen wir, die wir in keinem einzigen Fach reüssieren, uns immerhin nicht mehr ganz so schlecht. Nun schreibt Jochen Distelmeyer, einer der bekanntesten deutschen Liedermacher und ehemaliger Sänger der Hamburger Band Blumfeld, die bekannt für ihren Diskurspop war, einen Roman („Bingo!“). Kann er das? Und alle Rezensenten sind am Ende ein wenig erleichtert: Nein, kann er nicht. Zumindest nicht so gut wie Songs schreiben.

Erzählen oder plaudern?

Blumfeld eröffneten ihr letztes Album, Verbotene Früchte, mit dem Song „Schnee“. Davon gibt es im winterhaften Berlin des Romans Otis genug. Der Song handelte vom Schreiben, und eine wiederkehrende Textzeile lautete:

Und weiß wie Schnee ein Blatt Papier
Liegt da und fragt, Wie geht es Dir?
Ich mach mir meinen Reim
Und singe, was ich seh‘.

Das macht Distelmeyers Erzähler in Otis auch. Er singt bzw. erzählt, was er sieht. Und so füllt sich die weiße Leere auf dem Blatt Papier, das sein Roman ist. Das klingt nach realistischem Erzählen des 19. Jahrhunderts. Die detaillierte Wiedergabe von Sinneswahrnehmung, „was ich seh'“. So schrieben George Eliot, Honoré de Balzac, Fjodor Michailowitsch Dostojewski oder Theodor Fontane. Nun ja, beinahe. Denn die großen Romanciers des Realismus wussten entgegen aller Unkenrufe durchaus, dass ein Abbildrealismus nicht möglich ist, die Literatur aus der unüberschaubaren Vielfalt der Sinneseindrücke und Wahrnehmungsinhalte immer selegieren muss und dass jedes Erzählen immer auch ein Nichterzählen ist. Gerade ihre Auswahl war es, die sie zu Klassikern der Weltliteratur werden ließ, ihre Fixierung auf eine Idee, die ihre für heutige Verhältnisse oft überlangen Romane zusammenhielt, als Romane des psychologischen Realismus, eines Realismus der ökonomischen Zwänge, als schonungslose Analyse der vorherrschenden Sitten. Der Spagat, der den Romanautoren zwischen 1850 und 1900 gelang, war die Verbindung von Alltäglichem („was ich seh'“) mit einer leitenden Idee. Selbst die Modernisten hielten, wenn auch unter anderen Vorzeichen, an der Idee fest. Sie alle wussten: Wird die Idee aufgegeben, betreten wir das Inferno des naiven Abbilds – und müssen alle Hoffnung fahren lassen.

Distelmeyers Otis fehlt diese Idee. Sein Erzähler hat nichts zu erzählen, weshalb er eben so viel plaudert. Von dem, was gesehen wird und von dem, was man so alles darüber wissen könnte – wenn man wollte. Verabredet sich die Hauptfigur des Romans, der in Berlin lebende Schriftsteller Tristan Funke, gegen Ende des Romans mit der von ihm begehrten und wunderschönen „Nora Thränhardt, der er vor knapp zwei Jahren vergebens den Hof gemacht hatte“ im Tierpark Berlin, so scheint er sich bei seiner Ankunft so wenig für besagte Nora zu interessieren, dass Zeit für einen mehrseitigen Exkurs über die Geschichte des Tierparks bleibt. Das klingt dann so:

Der Tierpark Friedrichsfelde, Europas größter Landschaftstiergarten, befand sich seit seiner Eröffnung im Jahr 1955 auf dem Gelände des ehemaligen Gutshofs der Familie von Treskow. Der preußische Landwirtschaftsreformer, Schnapsdestillateur und Großkaufmann von Galanteriewaren und Uniformen Johann Carl Sigismund von Treskow hatte 1816 nach der Eheschließung mit seiner französisch-bürgerlichen Cousine Julie Jouanne von Treskow, auch dank der reichen Mitgift seiner Frau, das kurbrandenburgische Fürstengut erwerben können. […] Professor Dr. Curt Heinrich Dathe, fünfunddreißig Jahre lang Direktor des Tierparks Ost, hatte in Leipzig als Zoologe zum Thema «Über den Bau des männlichen Kopulationsorgans beim Meerschweinchen», einer anatomischen Studie zur Fortpflanzungsbiologie stachelschweinverwandter Nagetiere, promoviert und sich nach seiner Rückkehr aus englischer Kriegsgefangenschaft als Lektor und Vogelstimmenimitator beim Radio über Wasser gehalten. […] Sein Nachfolger, der für seine fachliche Kompetenz geschätzte Biologe Bernhard Blaszkiewitz, bewies ein in Tier- und Menschenführung weniger glückliches Händchen. […] Dass der Publikumsmagnet des Westberliner Zoologischen Gartens, der Eisbär Knut, 2011 in Folge des großen Besucherandrangs aus Stress verstarb, konnte dem Tiergärtner alter Schule [Blaszkiewitz] nicht angelastet werden.

Und so weiter. So belanglos das ist, ist dann auch das heißersehnte Treffen mit Nora. „Hey“ sagt sie, „Hallo“ antwortet er. Dass der Erzähler wenige Sätze später feststellt, „Ihr Gespräch kam nicht richtig in Gang“, mag vordergründig noch als Ausweis der Sinnlosigkeit solcher Kennenlerngespräche durchgehen, für geneigte Leser auch als Performation der Sinnlosigkeit, woraus man eine Poetik Distelmeyers abzulesen meint, ist in der Häufung solcher und ähnlicher Passagen letztlich jedoch selbst Banalität. Die Banalität des Alltags nicht-banal darzustellen war das Projekt der Erzähler von Jane Austen bis James Joyce, die alle wussten, dass banal präsentierte Banalität nie nicht-banal sein kann. Distelmeyer vertut sich, wenn er ein mathematisches Gesetz anzuwenden glaubt, demzufolge das Produkt der Multiplikation negativer Faktoren positiv ist (wir erinnern uns aus Schulzeiten: Minus mal Minus ergibt Plus). Banal mal banal bleibt banal, weil das Banale eine Null ist. Erst die Addition des Nicht-Banalen kann zu einem positiven Ergebnis führen.

Kitten

Die eingangs zitierten Kritiker haben das gut erkannt, wenn sie Distelmeyers Otis das Auslegen falscher „bildungsbürgerlicher Fährten“ (Diedrich Diederichsen) vorwerfen. Falsch deshalb, weil sie nichts zusammenhalten. Es ist wenig überraschend, dass Distelmeyer Homers Odyssee als zentralen intertextuellen Bezugspunkt gewählt hat. Das homerische Epos dient dem Schriftsteller Tristan Funke als Grundlage für seinen Roman mit dem Arbeitstitel Otis, an dem er seit einiger Zeit schreibt, ohne so richtig voranzukommen. Die Odyssee wohlgemerkt, nicht die Ilias, deren sich über zehn Jahre erstreckende Handlung bekanntlich von einem Erzählstrang, dem Zorn des Achill, zusammengehalten wird: „Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus“, wie der von Distelmeyer gelobte Voß den ersten Vers übersetzt. Im Proömium der Odyssee hingegen, dem ästhetisch fraglos schwächeren der beiden Epen, werden die Musen gebeten, die Taten des Odysseus zu berichten: „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes“. Taten, Plural, nicht Zorn, Singular. Und wie schon Aristoteles in der Poetik bemerkte, wird eine gute Handlung – Aristoteles nennt sie „schön“ – nicht dadurch zu einer Einheit verbunden, „wenn sie sich um einen einzigen Helden dreht“. Vielmehr beruht „die Einheit der Nachahmung auf der Einheit des Gegenstandes“ (Poet. 1451a; übers. v. Manfred Fuhrmann). Daraus ergibt sich für Aristoteles und die gesamte abendländische Dichtung die folgenschwere Forderung nach der Einheit von Teil und Ganzem: „Ferner müssen die Teile der Geschehnisse so zusammengefügt sein, dass sich das Ganze verändert und durcheinander gerät, wenn irgendein Teil umgestellt oder weggenommen wird. Denn was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar nicht ein Teil des Ganzen.“ (ibid.) Die logische Schlüssigkeit der aristotelischen Bemerkungen zur Handlungsführung zeigen sich insbesondere dort, wo sie ignoriert werden; es bedarf, wie etwa in Gustave Flauberts Éducation sentimentale, einer radikal neuen Poetik, um sich über die aristotelische hinwegzusetzen.

Diese Radikalität lässt Distelmeyers Roman nicht erkennen und so muss der Leser am Ende mit Aristoteles konstatieren, dass der Busfahrer Yilmaz Özcan, die taxifahrende Opernsängerin ohne Namen, der Hamburger Kaufmannssohn Ingo Meier, der Womanizer Simon Schwenders, die ‚Urban-Connectorin‘ Vicky Krüger, der Überraschungsei-Figuren sammelnde Hausmeister oder „der fahrig wirkende Rentner aus der Nachbarschaft“ mit seiner illegalen Hundezucht allesamt „gar nicht ein Teil des Ganzen sind.“ Wobei immerhin der Hundezüchter im letzten Absatz des Romans noch einmal zu seiner Ehre kommt. Wenn sich nämlich seine Kampfhunde von der Leine reißen und Tristan Funke – ebenfalls ganz un-aristotelisch – (halb?)tot beißen. Die letzten Gedanken Tristans: „Was für ein Reichtum. Es war alles noch da.“ Scheinbar hält er, wie sein Autor Distelmeyer, die Summe der Sinneswahrnehmungen für Reichtum und verwechselt Quantität mit Qualität. Wem des gefällt, wie etwa dem Otis-Apologeten Thomas Böhm, der hat, wie es an einer Stelle im Roman heißt, „offensichtlich den Boten mit der Botschaft verwechselt.“

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