Auf der Suche nach Sinn: Tom McCarthys Roman SATIN ISLAND (2015)

Tom McCarthy: Satin Island (Cover)„Me? Call me U.“ Wenn Literaturwissenschaftler Romane schreiben, darf man in der Regel einen großen Anspielungsreichtum erwarten, unzählige Zitate, so wie die Selbstbezeichnung des Ich-Erzählers in Tom McCarthys neuem Roman, Satin Island, der es vorige Woche auf die Longlist des Man Booker Preises 2015 schaffte. „Call me U“ erinnert natürlich an Herman Melvilles Moby Dick, dessen Erzähler sich dem Leser mit den Worten „Call me Ishmael“ vorstellt. Die Referenz in McCarthys Roman ist mehr als bloße Spielerei, sie signalisiert die Unzuverlässigkeit des Erzählens und so ist der Leser von Satin Island gleich zu Beginn gewarnt, dass das Folgende mit einer gehörigen Portion Skepsis zu lesen ist. Was aber ist es, was wir dort lesen? Eine Sinnsuche. Eine Sinnsuche von U., die gleichzeitig zur Sinnsuche des Lesenden wird. Weiterlesen

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Gerhart Hauptmann, Einsame Menschen (1891)

gerhart-hauptmann-einsamen-menschen-ullstein-coverGerhart Hauptmann war ein Vielschreiber. Daher verwundert es nicht, dass es eine Vielzahl literarischer Werke Hauptmanns gibt, die nur einem kleinen Publikum bekannt sind. Denn ist von Gerhart Hauptmann die Rede, denken die meisten sofort an Die Weber, an Bahnwärter Thiel, an Vor Sonnenaufgang oder an Die Ratten. Vielleicht auch an Hauptmanns Filmschaffen, an die Verfilmung seines Romans Atlantis (verfügbar auf YouTube), an seine Mitarbeit bei Murnaus Faust (YouTube), an Murnaus Film Phantom, der mit einer langen Einstellung beginnt, in der Hauptmann selbst über Feldwege schreitet (YouTube). Dabei ist die relative Unbekanntheit eines Großteils von Hauptmanns Werken weniger deren geringerer ästhetischer Qualität geschuldet. Vielmehr haben sich die Verlage nicht gerade vorbildhaft um den Literaturnobelpreisträger bemüht. Abgesehen von einigen günstigen Ausgaben der o.g. Texte für den Schulgebrauch, werden die Werke Hauptmanns nicht mehr verlegt. Wer sie lesen möchte, muss versuchen, antiquarisch an die vergriffenen Exemplare zu gelangen, auf eine gut sortierte Bibliothek vertrauen, oder hoffen, dass eine der nahegelegenen Bühnen ein selteneres Hauptmann-Stück auf den Spielplan setzt. Das frühe Drama Einsame Menschen ist eines dieser unbekannteren Hauptmann-Stücke, wenngleich es in den letzten Jahren durch diverse Inszenierungen an großen und kleinen Bühnen (Stuttgart, Düsseldorf, Berlin, Tübingen; vor kurzem: Bochum; in Kürze: Köln) eine kleine Renaissance erlebt hat. Weiterlesen

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Michel Houellebecq, Unterwerfung: Was hat der Roman mit dem Islam zu tun?

michel-houellebecq-unterwerfung-2015In direkter Bezugnahme auf die Anschläge in Paris, titelte die deutsche Wochenzeitschrift FOCUS in dieser Woche: „Das hat nichts mit dem Islam zu tun. Doch!“ FOCUS-Redakteur Alexander Wendt erklärte, dass die Redaktion damit die Zusammenhänge von „islamistischem Terror“ und Islam mit „einem großen Fragezeichen“ versehen wolle. Wendt übersah anscheinend vollkommen, dass die Titelseite des FOCUS kein Fragezeichen sondern ein Ausrufezeichen setzte – und zwar in trotziger Selbstbehauptung hinter das Wort „Doch“. Mit Michel Houellebecqs neuem Roman, Unterwerfung, verhält es sich ähnlich. Er wird seit zwei Wochen sehr intensiv und vor allem kontrovers in den deutschen und internationalen Feuilletons diskutiert. Und immer wieder stellt sich die Frage, ob Unterwerfung etwas mit dem Islam zu tun habe oder nicht. Vordergründig scheint genau das der Fall zu sein, schildert der Roman doch ein Frankreich im Jahr 2022, in dem der Anführer einer „muslimischen Bruderschaft“, wie es dort heißt, zum Präsidenten der Republik gewählt wird, die er daraufhin rasch in einen islamischen Staat umbaut. Wie sollte, bei diesem Sujet, Houellebecqs neuestes Werk nichts mit dem Islam zu tun haben? Die Antwort ist einfach: Der Islam ist bei Houellebecq nicht wesentlich mehr als ein Platzhalter für eine antikapitalistische und antiliberalistische Gesellschaftsordnung. Und wer Houellebecqs Romanwerk seit Ausweitung der Kampfzone (1994) kennt, weiß, dass das eine soziale Organisationsform ist, die der Autor unbedingt begrüßt. Die Frage, die der Roman aufwirft lautet daher weniger, ob der Islam gut oder böse sei. Vielmehr fragt Unterwerfung, ob die Aufgabe von Freiheit und Selbstbestimmung nicht immer noch ein günstiger Preis für eine Befreiung vom Kapitalismus sei, mit anderen Worten: ob eine Unterwerfung unter eine beliebige Macht (wie beispielsweise einen islamisch geprägten Staat) nicht einen ernstzunehmenden Lösungsansatz für die Probleme der sogenannten „westlichen Welt“ darstelle. So betrachtet, hat Houellebecqs neuester Roman nur oberflächlich mit dem Islam zu tun. Weiterlesen

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Hans Scherfig, Der versäumte Frühling [Det forsømte forår] (1940)

det-forsommte-foraar-hans-scherfigDer dänische Satiriker Hans Scherfig ist hierzulande nicht besonders bekannt, während viele seiner Romane in Dänemark zur Schullektüre zählen. Die deutschen Übersetzungen von Scherfigs Texten sind größtenteils vergriffen und nur noch antiquarisch zu beziehen, der Verlag, der einige Titel Scherfigs veröffentlicht hatte, führt sie nicht mehr im Programm (Grafit Verlag). Das mag unterschiedliche Gründe haben. Zum einen wird skandinavische Literatur in Deutschland ohnehin kaum rezipiert (von der Flut skandinavischer Thriller- und Kriminalromane einmal abgesehen). Selbst große dänische Autoren und Nobelpreisträger wie Johannes Vilhelm Jensen, Henrik Pontoppidan oder Jens Peter Jacobsen werden in Deutschland nur selten beachtet oder fristen allenfalls ein Dasein als Fußnote in Büchern über heimische Dichter, wie etwa Rilke, der von Jacobsen sehr stark beeinflusst war. Ferner lassen die Romane Scherfigs seine sozialistischen Überzeugungen erkennen, was seiner Rezeption in der Bundesrepublik nicht unbedingt zuträglich gewesen ist. Dass sie jedoch nur ein marginales, auf Dänemark beschränktes Leseinteresse wecken könnten, ist hingegen von der Hand zu weisen: Es gibt in Scherfigs Romanen wenig, das „rein skandinavisch“ wäre und folglich nur skandinavische Leser interessieren dürfte. Insbesondere sein Roman Der versäumte Frühling ist eine düster-heitere Satire auf das Schulsystem und wie dieses jährlich in den Prüfungsmonaten die Schülerinnen und Schüler das Frühjahr kostet (welches sie ausschließlich mit Lernen und Prüfungsvorbereitung zubringen): Der versäumte Frühling des Romantitels. Wenngleich die schwarze Pädagogik, die der Roman schildert heute größtenteils durch pädagogisch wertvollere Konzepte ersetzt wurde, zeigt gerade die Schuljahrverknappung von 13 auf 12 Jahre in Deutschland, dass der Leistungsdruck, der auf den jungen Menschen lastet, keineswegs ab-, sondern eher zugenommen haben dürfte. Es dürfte auch heute noch so manchen Abiturienten ein Frühjahr des Lebens kosten… aber solche Parallelen wirken forciert. Das wirklich lesenswerte an Scherfigs Roman ist auch weniger seine irgendwie modern anmutende Aussage, als vielmehr der beißende Ton, mit dem diese transportiert wird. Sein anspruchsvoller und eleganter Spott und Hohn sind es, was diesen Roman so lesenswert macht.

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Wolfgang Koeppen, Tauben im Gras

wolfgang-koeppen-tauben-im-gras-coverDer James Joyce aus Deutschland. Das sollte Koeppen in den Augen seines Verlegers Siegfried Unseld, dem damaligen Leiter des Suhrkamp-Verlages, sein. Unseld erwartete von Koeppen nichts geringeres, heißt es in einem Interview aus dem Jahre 1991 in DER ZEIT, als den deutschen Ulysses. Also eine Fassung jenes Romans von Joyce, bei dem es bis heute selbst Literaturwissenschaftlern einen gewissen Schauer über den Rücken jagt. Ein Roman, der geheimnisvoll und unnahbar erscheint, den man nicht „einfach so“ liest, dessen Lektüre vielmehr hochkonzentrierte Arbeit erfordert und den ohnehin nur eine ganz kleine geistige Elite jemals wirklich zu Ende gebracht hat. Aus verlegerischer Sicht ist es fragwürdig, warum man ausgerechnet ein kryptisches Werk von seinem Autoren erhofft, verspricht dieses doch nicht unbedingt hohe Auflage. Warum Unseld es jedoch von Koeppen erhoffte, wird klar, wenn man dessen Trilogie des Scheiterns liest, dessen erster Roman Tauben im Gras (1951) ist. Der Roman knüpft formal und inhaltlich stark an die Hochphase des literarischen Modernismus an, dem die Machtergreifung der Nazis in Deutschland ein so jähes Ende bereitete. Die geistige Verbundenheit mit den Modernisten Joyce, Woolf oder Döblin spricht aus jeder Zeile des Romans, der dennoch mehr ist, als bloße imitatio auctoris, Nachahmung eines modernistischen Stils also. Wie kein zweiter deutscher Nachkriegsautor hat Koeppen erkannt, dass die Verfahren des literarischen Modernismus für die Wiedergabe der Lebenserfahrung der Besatzungszeit bestens geeignet sind. Weiterlesen

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Nobelpreis für Literatur 2014: Patrick Modiano

nobelpreis-medaille-smallAm heutigen Donnerstag, den 9. Oktober 2014, gab die Schwedische Akademie den Nobelpreisträger für Literatur 2014 bekannt. Die Wahl fiel auf den französischen Schriftsteller Patrick Modiano, den die Akademie lobte für „for the art of memory with which he has evoked the most ungraspable human destinies and uncovered the life-world of the occupation.“ Wettbüros wie Ladbrokes hatten zuletzt den Romanschriftsteller Haruki Murakami (Autor von Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt und anderen Romanen) sehr weit vorne gesehen. Auch Adonis (Ali Ahmad Said) und (etwas überraschend) der norwegische Dramatiker Jon Fosse hatten laut internationalem Feuilleton gute Aussichten auf den begehrten Literaturnobelpreis 2014. Die Vergabe an Modiano gilt als Überraschung. Auf der Webseite der Schwedischen Akademie gab es unmittelbar nach der Verkündigung eine Umfrage, ob man Modiano gelesen habe. Die Quote 10 Minuten nach Bekanntgabe betrug 94% NEIN und 6% JA. Seinen ersten Roman hatte Modiano im Jahr 1968 veröffentlicht: La Place de l’Etoile. Sein jüngster Roman stammt aus dem Jahr 2010 und trägt in der deutschen Übersetzung den Titel Der Horizont.

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Lutz Seiler, Kruso: Deutscher Buchpreis 2014

Literaturpreise sind Vermarktungsinstrumente und gehorchen folglich den Gesetzen des Marktes, nicht denen der Ästhetik. Letzteres ein altertümlich anmutendes Wort, das zuletzt vielleicht bei Adorno noch einen Wert hatte. Danach stand es für einige Zeit noch im Kurs. Heute ist es entwertet. Traditionell war sie die Lehre der Schönheit, vor allem der der Kunst. Heute ist sie das stets Suspekte, letztlich das Nichtauthentische das immer gekünstelt ist. Seine Komposita sind Schönheitsindustrie, Schönheitschirurgie, Schönheitsfarm und was der Lifestyle einem müde gewordenen Publikum sonst noch nahelegt. Kurz: Schönheit ist das, bei dem man getrost abschalten kann ohne etwas zu verpassen. In der Kunst hat sie nichts zu suchen. Vielleicht verwundert es daher auch nicht, dass der Deutsche Buchpreis 2014 an Lutz Seilers Roman Kruso vergeben wurde. Ein Roman, dem Schönheit ebenfalls ein Fremdwort ist, Schönheit der Sprache, Schönheit der Form. Der Abschaltreflex setzt nicht ein, man liest weiter, ein wenig wie Verkehrsunfall. Das Sujet wird’s schon richten, DDR. Ein schwacher, ideenloser, unästhetischer Roman, der symptomatisch für die Sackgasse ist, in die sich der deutsche Roman der letzten Jahre geschrieben hat.

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Deutscher Buchpreis 2014 Shortlist

deutscher-buchpreis-2014-shortlistIm letzten Jahr ging der Deutsche Buchpreis 2013 an Terézia Mora und ihren Roman „Das Ungeheuer“. In diesem Jahr, 2014, stehen wieder sechs Autorinnen und Autoren auf der sogenannten „Shortlist“ und hoffen auf einen der begehrtesten deutschen Buchpreise. Der Vergabeprozess ist ein kontinuierliches Reduzieren. 176 Titel standen auf der Leseliste der sieben Jurorinnen und Juroren. 20 dieser 176 Titel schafften es auf die sogenannte Longlist, die am 13. August bekanntgegeben wurde. 14 dieser 20 Longlist-Romane fielen nun der weiteren Reduzierung zum Opfer, so dass die Jury heute, am 10. September 2014, eine Liste von sechs Titeln bekannt gab: Die Shortlist. Von diesen 6 Finalistinnen und Finalisten wird am 6. Oktober 2014 eine Siegerin bzw. ein Sieger gekürt werden. Die Preisverleihung findet wie jedes Jahr zu Beginn der Buchmesse in Frankfurt statt. Literaturen.net stellt die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2014 vor. Weiterlesen

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J.M. Coetzee: Die Kindheit Jesu (2013): Über Gott und die Welt

Djm-coetzee-die-kindheit-jesu-coverie englische Tageszeitung The Guardian hat eine Kolumne, die Digested Read heißt, was übersetzt so viel bedeutet wie „Verdaute Lektüre.“ Der Kolumnist John Crace stellt darin regelmäßig ein neues Buch vor (meistens einen Roman, aber auch Sachbücher oder Briefwechsel) – allerdings schon fertig verdaut, will heißen: Die Nahrungsaufnahme ist bereits erfolgt, der Magen hat das Buch bereits fertig zerlegt, die guten Nährstoffe in den Blutkreislauf geschickt, und die schlechten, unverdaulichen zur Ausscheidung freigegeben. So kann Crace einen mehrere hundert Seiten langen Roman auf nur einer einzigen Seite wiedergeben, also alles, was ihn nahrhaft macht. Crace hat auch den neuen Roman des südafrikanischen (bzw. inzwischen: australischen) Autoren und Nobelpreisträgers J.M. Coetzee verdaut: Die Kindheit Jesu (engl.: The Childhood of Jesus). Lakonisch lässt Crace darin David, eine der Hauptfiguren des Romans, sagen: „Isn’t it blindingly obvious from the title that this is a third-rate allegory?“ (dt. „Ein Blinder kann doch am Titel [dieses Romans] erkennen, dass es sich dabei um eine drittklassige Allegorie handelt.“) Diese humorvolle Aussage trifft den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf. Coetzees aktueller Roman, Die Kindheit Jesu, ist in der Tat nicht viel mehr als das: Eine drittklassige Allegorie mit unnötigem erzählerischem Ballast, die am Ende völlig ins Leere läuft.

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Booker Long List 2014 bekanntgegeben

booker2014Am heutigen Mittwoch wurde die sog. Longlist des Booker Preises (Man Booker Prize) 2014 bekanntgegeben. Die Liste enthält 13 Bücher von englischsprachigen Autorinnen und Autoren, darunter vier US-amerikanische, sechs britische, zwei irische und ein australischer Autor. Wie jedes Jahr bietet die Booker Longlist 2014 eine Mischung aus Debütanten und etablierten Autoren. Unter den bekannten Namen sind etwa Richard Powers zu finden (der v.a. durch seinen Bestseller Klang der Zeit bekannt wurde), David Nicholls (dessen Roman Zwei an einem Tag ein großer Kassenschlager war), Siri Hustvedt (die Ehefrau von Autor Paul Auster), oder Howard Jacobson (der mit seinem Roman Die Finkler-Frage bereits 2010 den Booker-Preis gewann). Wer also noch englischsprachige Lektüre für den heißen Sommer sucht, sollte einmal einen Blick auf die Booker Long List 2014 werfen:

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