Charles Dickens: Weihnachtsgeschichte

„Alle Jahre wieder“ kommt die Weihnachtszeit und mit ihr die alten Geschichten, die man Jahr für Jahr gerne wieder hört. Die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens (engl.: A Christmas Carol) ist eine dieser prominenten Geschichten, die man gerne wiederliest, im Radio hört oder im Fernsehen schaut. Dickens hat sie im Winter 1843 geschrieben, als 31-Jähriger – und damit sofort einen Volltreffer gelandet, die Geschichte wurde viel gelesen, war sehr beliebt und wieder wieder und wieder aufgelegt (nicht immer mit der expliziten Genehmigung von Dickens). Es war nicht der erste große literarische Wurf des englischen Schriftstellers. Im Jahr 1836 erschien Der Pickwick-Club (engl: The Pickwick Papers), ein komischer Roman, der den damals 24-Jährigen über Nacht berühmt machte; ein Jahr später, 1837, veröffentlichte Dickens seinen Roman Oliver Twist, der ebenfalls ein Erfolg wurde; es folgten weiterhin Nicholas Nickleby (1838), Der Raritätenladen (engl.: Old Curiosity Shop) (1840) und Barnaby Rudge (1841). Dickens war also bereits ein Star am literarischen Himmel des noch jungen Viktorianischen Englands, jedoch um 1843 in argen Geldnöten. Deshalb schrieb er kurzerhand die Weihnachtsgeschichte, um wieder etwas Geld in die Kassen zu bringen. Die Rechnung ging auf und Dickens sollte in den folgenden Jahren jedes Jahr zur Adventszeit eine derartige Weihnachtsgeschichte veröffentlichen: Die Silvesterglocken (engl.: The Chimes, 1844), Das Heimchen am Herd (engl.: The Cricket on the Hearth, 1845), The Battle of Life (1846) und The Haunted Man (1848).

Die Weihnachtsgeschichten von Dickens haben allesamt eine klare moralische Botschaft und ähneln sich auch sonst sehr stark. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich treten an den Weihnachtstagen, so Dickens, besonders deutlich hervor. Während die Armen kaum Geld genug haben, um sich ein Stück Feuerholz gegen die Kälte zu leisten (von festlichem Weihnachtsessen ganz zu schweigen), schwelgen die Reichen in unermesslichem Luxus. Und als wäre das alles noch nicht genug, scheinen alle Reichen der Ansicht zu sein, dass die Armen keiner Hilfe bedürften, da diese schließlich durch eigenes Verschulden in ihre prekäre Lage geraten seien. Das zeitgenössische Reden über sog. Hartz IV-Schmarotzer ist möglicherweise nicht weit von der Ignoranz der Reichen in Dickens Romanen entfernt; ebenso zeigen die Thesen in Thilo Sarrazins Buch eine geistige Nähe zu den Figuren der Aristokratie und des Wohlstandsbürgertums in Dickens Weihnachtsgeschichten…


Im England der 1840er Jahre waren große Hungersnöte an der Tagesordnung, wie etwa die Große Hungersnot in Irland; aber auch in England, das durch die Korngesetze große Versorgungsschwierigkeiten hatte. Die missliche Lage der Armen scheint daher eine absolute Sackgasse: kein Geld, kein Essen und oftmals kein Dach über dem Kopf; und dabei stets die Beweise sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit in greifbarer Nähe.

Was nun bei Dickens in den Weihnachtsgeschichten passiert ist so etwas wie ein kleines Weihnachtswunder. In der Weihnachtsgeschichte von 1843 ist es der alte Greizkragen und skrupellose Geschäftsmann Ebenezer Scrooge, der den Menschen in seiner Umgebung das Leben zur Hölle macht. Das Wunder besteht darin, dass ihm am Weihnachtsabend der Geist seines lange verstorbenen Geschäftspartners Jacob Marley erscheint und Scrooge ein grausames Ende prophezeit, falls dieser sein geiziges Wesen nicht ablegen werde: „»Drei Geister,« fuhr das Gespenst fort, »werden zu dir kommen.«“ Und so erscheinen im Laufe der langen Weihnachtsnacht drei Geister in Scrooges Arbeitszimmer, der Geist der vergangenen Weihnacht, der gegenwärtigen Weihnacht und der kommenden Weihnacht. Sie zeigen Scrooge Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sowohl in Bezug auf ihn selbst, als auch in Bezug auf die Familie seines Angestellten Bob Cratchit. Die traurige Vision seiner Zukunft führt Scrooge an sein eigenes, einsames Grab, das verlassen und von Unkraut überwuchert auf dem Friedhof liegt: „Scrooge näherte sich zitternd dem Grabe und wie er der Richtung des Fingers folgte, las er auf dem Stein seinen eigenen Namen. Ebenezer Scrooge.“ Als Scrooge am 1. Weihnachtsfeiertag erwacht, erwacht er als ein geläuterter Mensch und verspricht, fortan ein gutes und barmherziges Leben zu führen: „Scrooge war besser als sein Wort. Er tat alles und mehr noch, als er versprochen hatte.“

Dickens Kritiker haben oft auf die Unwahrscheinlichkeit einer solchen moralischen Wende hingewiesen oder ihm eine zu starke Simplifizierung von Armut und Reichtum vorgeworfen. Der Vorwurf jedoch scheint absurd vor dem Hintergrund, dass Dickens (der ansonsten in seinen Romanen, v.a. in seinen späteren, dem literarischen Realismus verpflichtet ist) mit den Weihnachtsgeschichten eindeutig der literarischen Fantastik frönt. Die Maßstäbe der ‚Realität‘, der ‚Plausibilität‘ und der ‚Wahrscheinlichekeit‘ sind in diesen Geschichten nur bedingt anzulegen. Dickens Weihnachtsgeschichten scheinen jedoch – und ihr Erfolg bis in die heutige Zeit scheint das zu belegen – einen Nerv der Zeit zu treffen. Die Wende von einem bösen zu einem guten Menschen mag unwahrscheinlich sein, dennoch ist der Wunsch nach einer solchen Wende ungebrochen. Dickens Figuren mögen stark überzeichnet sein, dennoch erkennen wir oft in ihnen einzelne Charakterzüge von real existierenden Personen wieder… und deshalb werden die Weihnachtsgeschichten von Dickens (allen voran A Christmas Carol) bis heute gerne und viel gelesen.

Eine Ausgabe mit allen fünf Weihnachtsgeschichten in deutscher Übersetzung gibt es bei dtv (siehe hier). Eine Ausgabe mit den Geschichten im englischen Original gibt es bei der Oxford University Press (siehe hier).

Bildnachweise: „A Christmas Carol“, by Stephen McKay: Lizenz: CC BY-SA 2.0. [Link zum Bild]


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