Hans Scherfig: Der verschwundene Kanzleirat (1938) – Welche Unfreiheit hätten Sie denn gerne?

Ein neues Leben beginnen, ganz weit weg vom Alltagstrott des bisherigen. Frau, Sohn, Arbeit und Großstadt tauschen gegen Einsamkeit, Ruhe, Hobby und Landleben. Das klingt nach einer wundervollen Idee, denkt sich der Kanzleirat Teodor Amsted im Roman Der verschwundene Kanzleirat (Den forsvundne fuldmægtig; 1938) des dänischen Schriftstellers Hans Scherfig (1905-1979). Dass das Leben nicht so ist wie in den Romanen, ist eine Erfahrung, die ironischerweise Romanfiguren sehr häufig machen. So auch Kanzleirat Amsted, dessen Traum vom freien Leben sich schnell als Albtraum entpuppt.

Anfang Oktober vorigen Jahres verschwanden in Kopenhagen zwei Männer. Ihr Verschwinden wurde der Polizei im Abstand von wenigen Tagen gemeldet. Sonst gab es zwischen den beiden Vermissten offensichtlich keinen Zusammenhang.

Mit diesen drei knappen Sätzen beginnt Der verschwundene Kanzleirat, der, wie auch der zwei Jahre später erschienene Roman Hans Scherfigs, Der versäumte Frühling (Det forsømte forår, 1940), oberflächlich eine Kriminalgeschichte zu sein scheint. Das Verschwinden zweier Männer, die Meldung bei der Polizei und der Hinweis, dass zwischen den beiden offensichtlich kein Zusammenhang bestehe deutet auf einen weiteren skandinavischen Krimi hin. Doch wie auch bei Der versäumte Frühling wird die Lösung des Geheimnisses um den verschwundenen Kanzleirat zur Nebensächlichkeit. Als Leser ahnt man bereits recht früh die Antwort auf die whodunit-Frage, nämlich dass [Spoiler ab hier] die in die Luft gesprengte Leiche, die man kurz nach dem Verschwinden am Strand Kopenhagens findet mitnichten der verschwundene Kanzleirat Teodor Amsted ist, auch wenn alles darauf hinzudeuten scheint. Vielmehr hat besagter Kanzleirat das Eintreten einiger glücklicher Umstände ausgenutzt, um seinen Tod vorzutäuschen und ein Leben auf dem Land zu beginnen, das er sich schon immer erträumt hat. Der Tote ist ein Schulfreund Amsteds, der mit Dynamit Selbstmord begangen hat – eben jener zweite Mann, dessen Verschwinden der erste Satz erwähnt.

Währenddessen begibt sich seine Frau und vermeintliche Witwe in Kopenhagen in die Hände eines ebenso vermeintlichen Mediums, um mit ihrem vermeintlich toten Mann in der Geisterwelt zu sprechen. Diese spiritistischen Sitzungen nehmen einen großen Raum in ihrem weiteren Leben ein und Frau Amsted „empfand Befriedigung, da sie ihren Mann nun wieder unter Kontrolle hatte.“

Eben jener Kontrolle versucht derweil der Totgeglaubte auf dem Land zu entkommen. Er mietet sich ein Appartement in einem Dorf außerhalb Kopenhagens, macht ausgedehnte Herbstspaziergänge, „atmet tief durch und pumpt sich mit guter, kräftiger Luft voll. Sie tut ihm gut.“ Zumindest in den ersten Tagen. Doch alle großen Erwartungen kippen rasch in ihr Gegenteil. Das Wetter schlägt um und bereitet den Herbstspaziergängen ein jähes Ende. Herr Amsted ist nun mit ganz alltäglichen Sorgen konfrontiert. Er weiß nicht, wie man kocht, wäscht, bügelt – das hat immer seine Frau gemacht. Er weiß nichts mit seiner freien Zeit anzufangen, in den langen skandinavischen Winternächten. Er hat Sorge um das Geld, das er in einer Tasche in seinem Zimmer aufbewahrt. Er muss bei einer bevorstehenden Volkszählung ein Formular ausfüllen und lügen. Und die Einsamkeit beginnt, an ihm zu nagen. Schließlich, als der Sommer des folgenden Jahres anbricht, kommt ihm die Polizei auf die Fährte und verhaftet ihn: „Teodor Amsted lässt den Dingen ihren Lauf. Er ist es gewohnt, dass andere die Initiative ergreifen. Er ist es gewohnt, dass über ihn bestimmt wird. Der Polizist stößt ihn ins Auto. Die Tür wird zugeworfen.“

Amsted erhält eine Gefängnisstrafe von acht Monaten und stellt fest, dass es diese Form von Unfreiheit ist, nach der er sich gesehnt hat, nicht die Freiheit, über sich und sein Leben selbst zu bestimmen. Als Mann, der von klein an auf die Karriere eines Kanzleirats vorbereitet worden war, hatte er nie gelernt, selber Initiative zu ergreifen und Entscheidungen für sein Leben zu treffen. Die Unfreiheit, die er bei seiner dominanten Frau und seinem herrischen Vorgesetzten stets empfunden hatte, hatte ihn Glauben gemacht, dass es Freiheit sei, nach der er sich sehne. Erst im Gefängnis wird ihm bewusst, dass er sich einfach nach einer ruhigeren und geregelteren Form der Unfreiheit gesehnt hatte. Das Gegenteil von Unfreiheit ist nicht Freiheit, so der Roman in seinen bitterbösen letzten Kapiteln, sondern eine andere Form von Unfreiheit, eine, die selbstgewählt ist. Und so beschließt Teodor Amsted nach seiner Entlassung, alles dranzusetzen, um wieder ins Gefängnis zurückzukommen. Er steht mit einem Hammer hinter seinem ehemaligen Vorgesetzten und starrt auf dessen Hinterkopf.

Wie auch Der versäumte Frühling ist Der verschwundene Kanzleirat eine bitterböse Satire auf das Leistungsprinzip und den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Erwartung und persönlicher Entfaltung. Dabei bewertet Hans Scherfig nicht das eine gut, das andere schlecht, sondern zeigt, dass nicht jeder in der Lage ist, den schmalen Grat zwischen beiden unbeschadet zu überwinden. Zur Freiheit muss man erzogen werden, sonst wechselt die Unfreiheit bloß ihre Form. Hans Scherfig, den überzeugten Marxisten und Kommunisten, brachten diese Gedanken 1941, im durch die Nazis besetzten Dänemark, ins Lager Horserød.

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