Alain Badiou: Versuch die Jugend zu verderben (2016)

alain-badiou-versuch-die-jugend-zu-verderben-2016Dieser Essay – um einen solchen handelt es sich bei Alain Badious Versuch, die Jugend zu verderben nämlich – löst ein zentrales Versprechen nicht ein: Hier wird niemand verdorben, und schon gar nicht die Jugend. Insbesondere nicht in dem engen Wortsinne, „durch sein schlechtes Vorbild (besonders in sittlich-moralischer Hinsicht) negativ beeinflussen“ (Duden). In seinem Essay gibt Badiou kein schlechtes Vorbild. Er orientiert sich vielmehr an einem Philosophen, dem vorgeworfen wurde, ein schlechtes Vorbild gewesen zu sein: an Sokrates. Dem war 399 v. Chr. ein Prozess gemacht worden, in dem es unter anderem zu dem Vorwurf durch den Ankläger Meletos kam, er verderbe die Jugend (siehe dazu Platons Apologie des Sokrates, Kap. 11-14). Das Ende der Geschichte kennen wir. Auch wenn es Sokrates gelang, diesen speziellen Vorwurf zurückzuweisen, wurde er letztlich zum Tode verurteilt und starb kurz darauf durch den Schierlingsbecher. Das philosophische Projekt, das Badiou in seinem Essay entwirft, tritt erklärtermaßen in die Fußstapfen des großen griechischen Denkers und der französische Philosoph betrachtet es als seine Aufgabe, ebenfalls die Jugend zu verderben. Das wirft gleich zu Beginn zwei Probleme auf: In seiner Apologie gegen die Anschuldigungen des Meletos versteht es Sokrates auf brillante Weise, die Vorwürfe zurückzuweisen und den Ankläger der Lächerlichkeit preiszugeben, mit anderen Worten: Es gelingt ihm zu beweisen, dass er die Jugend gerade nicht verdorben habe. Und zudem schwingt im altgriechischen διαφθείρειν (diaphtheírein) neben dem oben zitierten schlechten (sittlich-moralischen) Einfluss auch die völlige Zerstörung und das Töten mit (welche im deutschen Substantiv „das Verderben“ noch präsent sind – siehe Grimms Wörterbuch). Zwar geht Sokrates auf diese in seiner Verteidigungsrede nicht ein (er fragt lediglich nach, ob Meletos ihm vorwerfe, dass er, Sokrates, „lehre, die Götter nicht zu glauben, welche der Staat glaubt, sondern allerlei Neues, Daimonisches“ – worin möglicherweise ein gefährliches, destruktives Potential zu erahnen sein könnte), aber Meletos muss gewusst haben, dass ein starker Begriff wie diaphtheírein vor Gericht unzweifelhaft ein schlechtes Licht auf Sokrates werfen würde. Wenn Badiou also dieses philosophiegeschichtliche Ereignis als Ausgangspunkt für seine Überlegungen nimmt, warum, lässt sich fragen, übergeht er dann ausgerechnet diese beiden Aspekte? Es sollen, wie sich nach kurzer Lektüre herausstellt, noch weitere Unklarheiten hinzukommen.

Was für ein Verderben? Wozu verderben? Wen verderben? Und wie verderben?

Sokrates, der Jugendverderber?

Sokrates, der Jugendverderber?

Ohne die sokratische Verteidigungsrede in ihrer Gänze zu beachten, geht Badiou davon aus, dass er, ein 79 Jahre alter Mann (zum Vergleich: Sokrates war zu seinem Tod etwa 70 Jahre alt) die Jugend verderben müsse. Aber wozu eigentlich? Geld, Lust und Macht scheiden für den französischen Philosophen (wie für seinen griechischen Vorgänger) aus. Vielmehr müsse er sie verderben, so schreibt er, „das wahre Leben“ zu leben (dies im Übrigen auch Titel der französischen Originalausgabe: La vraie vie). Was offenkundig impliziert, dass es auch ein unwahres, ein falsches Leben gibt. Darunter, so erläutert Badiou, verstehe er ein Leben, „das man so lebt“ (13). Die Jugend verderben heiße also, sie zu diesem wahren Leben hinzuführen. Der Weg dahin führe an der Skylla der jugendlichen Leidenschaft für das unmittelbare Leben vorbei, sowie an der Charybdis der jugendlichen Leidenschaft für das geplante Leben und den Erfolg (14-16).

Beide Leidenschaften stünden im Widerspruch zueinander (den Badiou in dem Gegensatzpaar von „verbrennen vs konstruieren“ zusammenfasst), was auch zu einer gegensätzlichen Bewertung der Jugend führe. Ihre Eigenschaften lassen sich positiv wie negativ deuten, so Badiou. Etwa die Freiheit der Jugend, die sich in einer Abwesenheit von zwingenden Initiationsriten äußere (für Männer war das früher der Militärdienst, für Frauen die Hochzeit); ebenfalls aber auch ihre allgemeine Geringschätzung des Alters, sowie die scheinbare Verringerung von ehemals sehr distinktiv wirkenden Klassenunterschieden. Diese positiven Charakteristika negativ zu wenden, bedeute, die Freiheit von Initiationsriten als „unendliche Adoleszenz“ zu bewerten (27) und den Jugendwahn als eine „Infantilisierung des Erwachsenseins“ (28), bei der der Erwachsene bloß noch quantitativ (nach Konsummenge) gemessen werde, was, zusammengenommen, zu einer Orientierungslosigkeit führe. Auch die sinkende Wertschätzung des Alters habe Schattenseiten: Sie befeuere eine Angst „vor einer umherirrenden, orientierungslosen Jugend“ (30), so dass die Jugend in unserer Gesellschaft gleichsam Furcht wie Faszination auslöse; und, drittens, wird Badiou nun auch kritischer im Hinblick auf seine eingangs im Zusammenhang der Freiheitsanalyse fraglos zu emphatisch vorgetragene These von der sinkenden Bedeutung der Klassenunterschiede bei Jugendlichen (was hinter den Erkenntnisstand eines Pierre Bourdieu zurückfällt). Auch hier müsse man erkennen, dass die Unterschiede abgründig und vielleicht sogar unüberwindbar seien (31).

Während also die „Welt der Tradition“, wie es Badiou nennt, vergehe, zeichne sich noch kein positives Gegenstück zu ihr am Horizont der Zukunft ab. Er zitiert in diesem Zusammenhang aus dem Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 („… Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen…“) und erläutert:

Was Marx hier im Grunde sagt, ist, dass der Ausgang aus der Tradition eine gewaltige Krise der symbolischen Organisation der Menschheit verursacht hat. […] [Dieser Ausgang] hat kein nichthierarchisches symbolisches System hervorgebracht, sondern nur einen gewaltsamen, realen ökonomischen Zwang, dessen Kalküle und Regeln nach den Vorlieben einer winzigen Anzahl von Menschen gestaltet wird. (40-42)

Die Orientierungslosigkeit der Jugend erscheint somit als ein Symptom für die historische Krise der symbolischen Ordnung – worauf sich auf zwei Arten reagieren lasse (beide wenig zufriedenstellend, wie der Leser, aber auch Badiou, schnell feststellt): Erstens eine Apologie des Kapitalismus; zweitens eine Rückkehr zur traditionellen, hierarchischen symbolischen Ordnung.

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Karl Marx: Neben Sokrates Badious wichtigster Gewährsmann in seinem Essay Versuch, die Jugend zu verderben

Beide Optionen führen Badiou zufolge in Aporien. Der Widerspruch, der zwischen ihnen besteht, sei ein gefährlicher, weil falscher Widerspruch; falsch, weil beide Gruppen im Grunde „dieselben Vorstellungen wie die großen Finanziers im Westen [hegen]: Beide sind sich darin einig, dass es außerhalb des Raubtierkapitalismus, der den Reichtum in den Händen einiger weniger konzentriert, keine globale Gesellschaftsordnung geben kann“ (45). Wenn dieser Widerspruch als Scheinwiderspruch falsch ist, was ist dann ein wahrer Widerspruch? Hier kommt Badiou dann erstmals konkret auf sein Projekt der Idee des Kommunismus zu sprechen. Der wahre Widerspruch bestehe also zwischen „der asymbolischen Vision des westlichen Kapitalismus“ und der „egalitären symbolische[n] Ordnung“ des Kommunismus (44). Dass zwischen dem turbokapitalistischen und dem reaktionär-nationalistischen Lager scheinbar ein gewaltsamer Konflikt bestehe, binde laut Badiou zu viel Aufmerksamkeit: „Dadurch wird der Aufstieg der einzigen globalen Überzeugung, welche die Menschheit noch vor einem Desaster bewahren könnte, blockiert […] die Idee des Kommunismus.“ (46).

Was hat das jetzt alles mit dem Verderben der Jugend zu tun?

Zurück zum Thema seines Essays: Was ist nun genau die Relevanz dieser Überlegungen für die Jugend, deren von Badiou attestierte Orientierungslosigkeit als ein Symptom für die beschriebene historische Krise der symbolischen Ordnung zu verstehen sei? Hier wendet sich Badiou in einer Apostrophe an seine (jugendlichen) Leserinnen und Leser: „Ihr jungen Leute […] werdet eure Subjektivität also einer ganz neuartigen Herausforderung widmen müssen: Gegen den Ruin des Symbolischen im eiskalten Wasser des kapitalistischen Kalküls und gegen den reaktiven Faschismus müsst ihr eine ganz neue Art symbolischer Ordnung errichten.“ (47) Ein Kinderspiel (oder Jugendspiel)! Oder doch nicht? Denn um dieser Herausforderung standzuhalten, bedürfe es der Fähigkeit, „über sich selbst hinauszugehen“ (49) – eine Erfahrung, die wir im Alltag oft machen, wenn etwas Unvorhergesehenes passiere. Badiou nennt als Beispiel das Sich-Verlieben, das einen befähigt, Dinge zu tun, die man vorher für unmöglich gehalten hätte. Und hier kehrt Badiou zu den eingangs untersuchten verschiedenen Lebensentwürfen der Jugend zurück (wir erinnern uns: „verbrennen vs konstruieren“) und rät: „Seid bereit, das Konstruierte aufzugeben, weil etwa anderes euch den Weg zum wahren Leben weist.“ (50)

Zweifellos hat die Jugend von heute „die Ketten der Tradition abgeworfen. Doch was tun mit dieser Freiheit?“ (52) Die Antwort Badious: Nicht den festen Platz oder die Karriere in den Vordergrund des Denkens stellen, „sondern das wahre Denken, dem es gelingt, die Schwester des Traums zu sein. Ein Denken des Aufbruch, ein wahres Denken des wogenden Ozeans der Welt. Ein exaktes und nomadisches Denken, ein Denken, das exakt ist, weil es nomadisch ist, ein maritimes Denken.“ (54) Mit diesen poetischen Worten beendet Badiou den ersten der drei Abschnitte zur Jugendverderbung. Der zweite widmet sich dem gegenwärtigen Werden der männlichen, der dritte dem der weiblichen Jugend, da die Differenz der Geschlechter in dieser Frage entscheidend sei.

Der Versuch bleibt rätselhaft

Nun mag es der Form des Essays geschuldet sein, dass der Aufbau des Arguments nicht immer überzeugt. Viele Aspekte seiner Argumentation werfen mehr Fragen auf, als sie zu beantworten. Wieso etwa führt die wachsende Geringschätzung des Alters zur Furcht vor der Jugend? Schließlich wäre Indifferenz doch wahrscheinlich eine mindestens ebenso plausible Reaktion; oder erwiderte Geringschätzung, Hass, Zorn, Verachtung. Aber Furcht? Und weshalb gibt es für Badiou nur zwei Lebensentwürfe der Jugend – das Verbrennen und das Konstruieren? Wäre für seine folgende Analyse der Reaktionen auf die Krise der symbolischen Ordnung nicht zusätzlich zum Gegenwärtigen des Verbrennens und zum Zukünftigen des Konstruierens, auch das Vergangene des Rekonstruierens denkbar gewesen? Eine Jugend, die sich paradoxerweise nach einer Vergangenheit zurücksehnt, die sie (weil sie Jugend ist) nicht selbst erlebt hat? Hat hier das Reaktionäre nicht seinen Ursprung? Dann ließe sich der Schritt stärker in Analogie zu den Reaktionsmöglichkeiten lesen: Vergangenheit = Reaktionärer Faschismus; Gegenwart = Apologie des unmittelbaren Kapitalismus; Zukunft = die Idee des Kommunismus.

Vielleicht ist der größere Schwachpunkt, dass der weitestgehend logisch-argumentative Aufbau seines Essays eine ebensolche Konklusion erwarten lässt. Wir kennen nun die Prämissen, unter denen die Jugend angehalten ist, zu handeln. Der philosophische Jugendverderber Badiou hat sie uns über 50 Seiten nähergebracht. Was aus diesen Prämissen folgt ist das Wort vom Seefahrer und dem maritimen Denken. Was soll das sein? Eines, das heute diesen, morgen jenen Hafen ansteuert? Und fahren wir auf einem Dampfschiff oder einem Segelschiff, dass nur bei günstigem Wind wirklich Meilen macht? In welcher Richtung liegt das wahre Leben: Backbord oder Steuerbord? Angesichts dieser Diskrepanz formal-argumentativen und poetisch-assoziativem Denken (die Badiou mit der Behauptung, „Dichter wissen, wie man eine neue Sprache für Fragen des Aufbruchs, der Entwurzelung, der Losgerissenheit vom Selbst, der neu zu entwickelnden Symbole findet“ (50) rechtfertigt) bleibt der Aufruf an die Jugend einer, den sie am Ende nicht verstehen wird. Denn warum Badiou ein enges Konzept der Dichtung zu Grunde legt – es schließt jede nicht-prophetische Sprachverwendung aus dem Reich der Dichtung aus – wird einmal mehr: nicht erläutert. Die Jugendlichen müssen das schon selber verstehen. Und wie die in Badious Darstellung semantisch verkürzten Allegorien des Schiffes und der Anabasis zu verstehen seien, gibt er der Jugend auch nicht als Hinweis mit auf den Weg. Das lässt den Verdacht aufkommen, dass Badiou selbst nicht aufgebrochen ist. Er spricht zu sich selbst und muss nicht erläutern, was der Erläuterung bedarf, da Sender und Empfänger der Botschaft in eins fallen. Mit sokratischer Mäeutik hat das hingegen nicht mehr viel zu tun. Badious Verderbungsversuch: Ein Etikettenschwindel? Vielleicht wäre der – etwas weniger griffige – Titel „Das wahre Leben“ (La vraie vie) geeigneter gewesen als der Versuch, die Jugend zu verderben, um Badious Anliegen näherzukommen?

Alain Badiou: Versuch, die Jugend zu verderben. Übersetzt von Tobias Haberkorn. Berlin: Suhrkamp, 2016.

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