Was ist ein literarischer Kanon? Zur Kanonisierung und Kanonbildung.

Ich werde immer wieder gefragt, wo man sich (im Internet oder auch anderswo) über Literatur informieren kann. Oft wollen SchülerInnen einfach wissen, wo sie rasch in paar Deutschunterricht-taugliche Informationen zu Theodor Fontane, Goethe oder Remarque erhalten (oder im Englischunterricht eben zu George Eliot, Shakespeare oder Jane Austen). Meistens aber wollen Lesebegeisterte wissen, wo sie Anleitungen zum Lesen erhalten: was man lesen sollte, wie man es lesen sollte. Im heutigen Artikel geht es um die Frage „Was soll ich lesen?“, sprich: um den Kanon – der genau die Frage beantwortet, was man so alles gelesen haben sollte.

Was ist ein literarischer Kanon?
Probleme des Kanons am Beispiel: „Der Kanon“ von Marcel Reich-Ranicki


Vielen Leser/innen ist „Kanon“ vor allem durch Marcel Reich-Ranicki ein Begriff, der nicht nur einen solchen herausgegeben hat, sondern auch die schöne Domain www.derkanon.de registriert hat. Das Projekt von Reich-Ranickis Kanon ist in vieler Hinsicht interessant, bedarf aber eines Kommentars. Zunächst das wichtigste: Reich-Ranicki beschränkt sich ausschließlich auf die deutsche (genauer. deutschsprachige) Literatur. Er unterteilt seinen Kanon in fünf Teile: Lyrik, Dramatik und Epik. Letzterer ist unterteilt in Erzählungen und in Romane. Als fünften Band gibt er Essays heraus.

Reich-Ranicki weist in seiner Rede „Brauchen wir einen neuen Kanon?“ ausdrücklich darauf hin, dass es sich um einen „Kanon für Leser“ handele. Es ist also ein nationalsprachlicher, leserorientierter, genreübergreifender Kanon. Dabei ist wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass man das Projekt „Der Kanon“ auch ganz anders hätte angehen können. Weltliterarisch statt nationalliterarisch, mit einem Fach- statt einem Lesepublikum, mit Beschränkungen auf bestimmte Genres (Roman-Kanon, Lyrik-Kanon o.ä.) oder gar auf bestimmte Epochen. Ein solches alternatives Projekt könnte also z.B. lauten: „Kanon der westeuropäischen Roman-Literatur des 18. Jahrhunderts“, wobei sich die Ergänzung „Für Literaturwissenschaftler“ schon fast erübrigt, da ein solcher Kanon ohnehin nur ein Fach- bzw. besonderes Liebhaberpublikum interessieren würde. Was ich damit zeigen will ist: Der Begriff „Kanon“ ist absolut offen, auch wenn der bestimmte Artikel in Reich-Ranickis Projekt „DER Kanon“ das Gegenteil impliziert.

Da ich in diesem Blog in erster Linie über Romane schreibe, möchte ich nur einen kurzen Blick auf den Romane-Teil von Reich-Ranickis Kanon werfen. Hier ein Überblick über die Romane, die Marcel Reich-Ranickis Kanon beinhaltet:

  1. Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers
  2. Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften
  3. E.T.A. Hoffmann, Die Elixiere des Teufels
  4. Gottfried Keller, Der grüne Heinrich
  5. Theodor Fontane, Frau Jenny Treibel
  6. Theodor Fontane, Effi Briest
  7. Thomas Mann, Buddenbrooks
  8. Heinrich Mann, Professor Unrat
  9. Hermann Hesse, Unterm Rad
  10. Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
  11. Franz Kafka, Der Proceß
  12. Thomas Mann, Der Zauberberg
  13. Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz
  14. Joseph Roth, Radetzkymarsch
  15. Anna Seghers, Das siebte Kreuz
  16. Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege
  17. Wolfgang Koeppen, Tauben im Gras
  18. Günter Grass, Die Blechtrommel
  19. Max Frisch, Montauk
  20. Thomas Bernhard, Holzfällen

Auch hier fällt einiges sofort auf: die Auflistung der 20 Titel ist streng chronologisch. Man sieht das v.a. dadurch, dass die beiden Thomas Mann-Romane in der Liste nicht direkt hintereinanderstehen. Damit zeigt sich, dass Reich-Ranickis Roman-Kanon eine Zeitspanne von 1774 bis 1984 (Goethes Werther bis Bernhards Holzfällen) umfasst, also 210 Jahre.
Damit ist man mit dem zentralen Problem jeglicher Kanonbildung konfrontiert: die Begrenzung. Reich-Ranicki hat eine Begrenzung auf 210 Jahre festgelegt. Romane vor 1774 nimmt er ebensowenig auf, wie Romane nach 1984. Das erweckt für unerfahrene Leser den Eindruck, die deutschsprachige Roman-Literatur würde erst mit Goethes Werther beginnen und 1984 mit Bernhard aufhören. Unnötig zu erwähnen, dass das nicht so ist.
Eine weitere Auffälligkeit beim Durchlesen dieser Liste: jeder kennt die Namen, Goethe, Fontane, Thomas Mann, Kafka und Grass. Aber wer ist Heimito von Doderer? Dieser Autor dürfte wohl eher nur einem Fachpublikum bekannt sein. Gleiches gilt evtl. auch für Koeppen oder Keller, die nicht unbedingt jedem mehr bekannt sein dürften.
Fazit: Reich-Ranicki mischt bekannte und unbekannte Autoren.

Und damit ist man beim Kern des Kanon-Problems, so wie ich es sehe: ein Kanon sagt weniger etwas darüber aus, welche Bücher lesenswert sind und welche nicht. Ein Kanon sagt vielmehr etwas über den aus, der ihn geschrieben hat.

Weswegen ich an dieser Stelle einen alternativen Roman-Kanon vorstelle, der analog zu Reich-Ranickis Kanon auch 20 Werke enthält:

  1. Grimmelshausen, Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch (1668)
  2. Wieland, Geschichte des Agathon (1766/67)
  3. Goethe, Wahlverwandtschaften (1774)
  4. Moritz, Anton Reiser (1785-1790)
  5. Novalis, Heinrich von Ofterdingen (1802)
  6. Eichendorff, Das Marmorbild (1819)
  7. Fontane, Effi Briest (1895)
  8. Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906)
  9. Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910)
  10. Kafka, Der Proceß (1924)
  11. Th.Mann, Der Zauberberg (1924)
  12. Döblin, Berlin Alexanderplatz (1929)
  13. Remarque, Im Westen nichts Neues (1929)
  14. Tucholsky, Schloß Gripsholm. Eine Sommergeschichte (1931)
  15. Broch, Schlafwandler (1932)
  16. Canetti, Die Blendung (1936)
  17. Frisch, Stiller (1954)
  18. Bachmann, Malina (1971)
  19. Johnson, Jahrestage (1970, 1971, 1973, 1983)
  20. Goetz, Abfall für Alle (1999)

Diese Liste enthält 20 Titel von denen 6 (fett markiert) mit der Liste von Reich-Ranicki übereinstimmen. Zeitlicher Rahmen, dieses kleinen deutschsprachigen Roman-Kanons ist 1668 bis 1999, also 331 Jahre (also 121 Jahre mehr als bei Reich-Ranicki). Das hängt vor allem damit zusammen, dass ich mit Grimmelshausen einen wichtigen Romanschriftsteller aufnehme, der über 100 Jahre vor Goethes Werther einen großen Roman geschrieben hat, den Simplicissimus Teutsch.
Auffällig bei diesem kleinen Kanon ist ferner, dass es sowohl eine „Lücke“ zwischen Eichendorff (1819) und Fontane (1895) gibt. In dieser Zeit war der Roman zu Gunsten der Novelle und anderer Kurzformen in den Hintergrund gerückt (wobei sich streiten ließe, ob Eichendorffs Marmorbild noch Novelle oder schon Roman ist). Ebenfalls auffällig, dass es eine auffällige Ballung zwischen 1906 (Musil) und 1936 (Canetti) gibt. 9 der 20 Titel entfallen auf diesen kurzen Zeitraum, was daran liegt, dass der Roman spätestens seit Fontane zu einem der wichtigsten erzählerischen Genres geworden war.
Analog zur Reich-Ranickis Kanon findet man beim Überfliegen der Liste bekannte und weniger bekannte Namen. Goethe, Fontane, Kafka kennt auch jeder, der nicht gerne liest. Broch, Canetti, Bachmann und Goetz hingegen kennt sicherlich nicht jeder. Broch ist zugegeben der große Exot in dieser Sammlung (wie von Doderer bei Reich-Ranicki). Sein vielschichtiges Werk lässt sich so schwer zuordnen, dass es gerne auch mal gar nicht gelesen wird. Taschenbuch-Neuausgaben haben daran leider nur wenig ändern können. Dennoch dürfte die Roman-Trilogie Schlafwandler von Broch jedem/r Leser/in ein großer Genuss sein.


Mit Remarque und Tucholsky stehen zwei Autoren auf der Liste, die in so genannten „ernsten“ Kanon-Listen oft fehlen: entweder weil ihr Werk, wie im Fall von Tucholsky als zu spaßig und unernst empfunden wird, oder -wie im Fall von Remarque- als zu nah an populärer Unterhaltungsliteratur. Da beide Autoren auf ihrem Gebiet jedoch einzigartig sind (und zudem extrem populär) dürfen sie meines Erachtens auf einer solchen Liste nicht fehlen.

Der Kanon und „Das muss man doch gelesen haben!“

Der häufig mit gespielter Empörung präsentierte Ausruf: „Das kennst Du nicht? Aber das MUSS man doch kennen!“ kann einen zur Weißglut bringen. Denn auf die Rückfrage „Warum MUSS man das denn kennen?“ bekommt man meist die leicht arrogante Antwort zurück: „Das gehört einfach zur Bildung!“. Bildung. So ein Wort, das heute einen faden Beigeschmack hat. Bildung klingt nach Bildungsbürgertum und unangenehm konservativen Werten. Die Reaktion vieler Menschen auf vermeintliche Bildungsstandards ist Trotz.

Der Philosoph Immanuel Kant schrieb einmal, dass Anschauungen ohne Begriffe blind seien. Ich denke, auch wenn Kant damit etwas ganz spezielles gemeint hat, lässt sich dieser Ausspruch mühelos auf den Bildungskonservativismus übertragen: dort gilt das viele Menschen bestimmte Ansichten (Anschauungen) haben, ohne davon einen Begriff zu haben (sprich: ohne sie wirklich zu begreifen). Der unbegriffene Kanon wird zum Selbstzweck. Er führt zu Aussprüchen wie: „Das MUSS man eben gelesen haben!“

Dessen ist sich auch Reich-Ranicki bewusst gewesen, als er seinem Kanon folgende erste Worte voranstellte:

„Kanon“ – klingt das nicht altmodisch? Und herrisch und verstaubt zugleich? Jedenfalls scheint es eine Vokabel aus einer vergangenen Epoche, eine, gegen die schon unsere Väter gelegentlich – meist gelangweilt – protestierten. Kurz: ein alter Zopf.

Und tatsächlich stellt sich die Frage, wieso man irgendetwas gelesen haben muss oder auch nur sollte. Nur um es gelesen zu haben? Nur um sich ein Cocktailparty-Wissen anzulesen und im Zweifelsfall ein paar kluge Bemerkungen zum Stil Fontanes abgeben zu können? Allein die Schwierigkeiten, sich auf einen Kanon zu einigen zeigen, dass ein derartiges Unterfangen höchst kritisch zu betrachten ist.

Zwar gibt es einige Standards, die sich durch jede Kanon-Bildung ziehen. Z.B. gab es in den 60er- und 70er-Jahren Bemühungen sowohl von feministischen Gruppen, als auch von afroamerikanischen Gruppen, Shakespeare als europäischen, männlichen Autoren aus dem Schulunterricht zu verbannen, doch diese Bemühungen sind heutzutage vollends verschwunden. Kaum jemand behauptet aus ideologischen Gründen noch ernsthaft, Shakespeare gehöre nicht in den Kanon. Doch neben Shakespeare hat, meiner Meinung nach, nur noch ein weiterer Autor einen derartigen Stammplatz im Kanon – und das ist Homer. Interessant dabei ist (und ich werde in der Zukunft sicherlich auf dieses Thema zurückkommen), dass sowohl über Shakespeare als auch über Homer als Personen fast nichts bzw. viel Widersprüchliches bekannt ist. Biografische Unbekanntheit allein ist sicherlich keine Kanon-Stammplatzgarantie, aber sie verhindert auch eine simple Autor-Werk-Identifikation, die das Werk anfälliger für ideologische Angriffe zu machen scheint.

Abschließend ließe sich formulieren, dass man ebenso froh sein kann, nichts lesen zu müssen, wie alles lesen zu können. Ein Kanon in diesem Sinne, ist nichts weiter als eine Empfehlung, die wirklich nichts Verbindliches hat, und die -wie weiter oben bereits erwähnt- mehr über den Autoren des Kanons aussagt, als über alles andere. Jemandem, der fragt, ob man ihm etwas zu lesen empfehlen könnte, aufs Geratewohl ein Werk aus einem literarischen Kanon zu nennen, ist eine schlechte Vorgehensweise. Tatsächlich sollte man die Person fragen, was die letzten Bücher waren, die er/sie gelesen hat und mochte, um dann eine Empfehlung abzugeben, die entweder sehr ähnlich ist oder grundverschieden von den genannten Favoriten.

Literaturpreise und Kanonbildung: Der Nobelpreis

Hand aufs Herz, wer kennt Le Clézio, Xingjian, Szymborska, Heaney, Seifert oder gar Prudhomme? Ich bin ganz ehrlich zurück: ich kenne sie nicht und habe noch nie auch nur eine Zeile von diesen Autoren und Autorinnen gelesen. Und das, obwohl sie allesamt einen Nobelpreis für Literatur erhalten haben.

Denn Tatsache ist, dass der Nobelpreis, obwohl er der renommierteste Literaturpreis der Welt ist, nur eine vergleichsweise geringe Wirkung auf die Bildung des literarischen Kanons gehabt hat. Die kanonisierten Autoren des 20. Jahrhunderts haben sogar erstaunlicherweise alle keinen Nobelpreis erhalten: Kafka, Döblin, Joyce, Woolf oder Proust – jedoch werden diese Autoren bis heute intensiv gelesen.

Dafür kann es viele Gründe geben. Zum einen ist der Preis trotz seiner internationalen Ausrichtung ein schwedischer Preis. Vergeben wird er von der Schwedischen Akademie, in der nur schwedische Juroren sitzen. Das erklärt auch den hohen Anteil an schwedischen Preisträgern (6 an der Zahl), obwohl schwedische Literatur im 20. Jahrhundert mit wenigen Ausnahmen (wie dem späten Strindberg z.B.) nur eine untergeordnete Rolle spielt. Auch ist der Preis mittlerweile zu einem Medienereignis geworden und hat vor allem auch politische Bedeutung. Der literarische Wert, das ist häufig kritisiert worden, schien bei den Entscheidungen nicht selten einen untergeordneten Wert gespielt zu haben.

Gleiches trifft auch auf die übrigen Literaturpreise zu. Der große französische Prix Goncourt, der englischsprachige Booker Price oder der deutschsprachige Büchnerpreis – sie alle haben nur unwesentlich dazu beigetragen, Autoren zu kanonisieren.

Das liegt vor allem an der Abgeschlossenheit der Preisträgerliste. Während ein literarischer Kanon offen ist und Autoren auch aus einem Kanon herausfallen können (obwohl sie zu ihrer Zeit mit Fug und Recht im Kanon waren) ist die Liste der Preisträger gesetzt. Wer Preisträger ist, ist das auf Ewig. Auch spiegeln die Entscheidungen die Bewertungskriterien der jeweiligen Zeit wieder, ein aktueller Kanon immer die Kriterien zur Bewertung der heutigen Zeit. Ein Kanon ist demnach deutlich flexibler, als eine festgesetzte Liste von Preisträgern, der jedes Jahr ein weiterer Name hinzugefügt wird und werden muss. Literaturpreise im Allgemeinen und der Nobelpreis im Besonderen tragen aus diesen verschiedenen Gründen fast überhaupt nicht zur Kanonbildung bei – was nicht bedeutet, dass nicht auch Autoren ausgezeichnet würden, die Einzug in den literarischen Kanon finden, ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist der südafrikanische Autor J.M.Coetzee, der 2003 den Nobelpreis gewann und mittlerweile nicht nur von Lesern begeistert rezipiert wird, sondern auch in den Literaturwissenschaften einen festen Platz hat. Übrigens hat Coetzee in seinem vielleicht berühmtesten Essay „What is a classic?“ genau die Frage nach dem Kanon gestellt. Ein sehr lesenswerter Text wie Autor.

Literatur

Dieser Beitrag wurde unter Literaturwissenschaftliches veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Responses to Was ist ein literarischer Kanon? Zur Kanonisierung und Kanonbildung.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.