Thomas Hardy, Der Bürgermeister von Casterbridge

Der letzte Roman, den wir hier auf diesem Blog vorgestellt haben, war Balzacs Vater Goriot. Gleich nach einem derart deprimierenden Roman einen Roman von Thomas Hardy vorzustellen, ist vielleicht keine gute Idee: Denn Thomas Hardy steht in seinem Pessimismus und in der Grausamkeit seiner Schilderungen der Gesellschaft seiner Zeit dem französischen Romancier Balzac in nichts nach. Ebenso wie Balzacs Frankreich ist Hardys ‚Wessex‘ bestimmt von der Selbstverliebtheit und Ich-Zentriertheit der menschlichen Natur. Auch bei Hardy sind durch und durch gute Figuren eine Seltenheit und es überwiegen die rücksichtslosen Karrieristen, die skrupellosen Emporkömmlinge und die verschlagenen Verbrecher. Hardys Roman Der Bürgermeister von Casterbridge (engl.: The Mayor of Casterbride) von 1886 ist hier keine Ausnahme und steht seinen – vielleicht bekannteren Romanen Jude the Obscure und Tess of the D’Urbervilles in nichts nach. Der Untertitel des Romans, „The Life and Death of a Man of Character“ („Leben und Tod eines Mannes von Charakter“), zeigt schon an, dass Hardy einen vollständigen Lebenszyklus schildert, der bis zum Tod eines Mannes reicht, von dem gesagt ist, dass er Charakter hat. Das Wort „Charakter“ kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet dort soviel wie „Prägung“ und (in einem weiteren Sinne) „Eigenart“. Der Roman schildert also die Eigenarten im Leben eines Mannes – Michael Henchard mit Namen – und beginnt bei dieser Schilderung gleich mit einem gewaltigen Paukenschlag: Besagter Henchard verkauft auf einem Dorfjahrmarkt in schwer alkoholisiertem Zustand seine Ehefrau und seine Tochter an einen Fremden! Die Katastrophe folgt stehenden Fußes…

Der Bürgermeister von Casterbridge, Inhaltsangabe

Zunächst also eine kurze Inhaltsangabe von Hardys Der Bürgermeister von Casterbridge. Der Roman spielt in der fiktiven Region „Wessex“, die lose auf dem mittelalterlichen angelsächsischen Königreich gleichen Namens beruht und sich im Südwesten Englands befindet. Die Orte in Hardys Romanen basieren auf tatsächlich existierenden Englischen Städten, werden von Hardy in der Regel aber mit einem fiktiven Namen versehen. So lässt sich die Stadt Casterbridge, in der dieser Roman spielt, ohne große Mühe als Dorchester in Dorset identifizeren, also Hardys Heimatstadt (er wurde 1840 in Higher Brockhampton, einem Vorort, etwa 3,5 Meilen nordöstlich von Dorchester, geboren und starb 1928 – ebenfalls in Dorchester).


Zu Beginn des Romans verkauft, wie gesagt, der betrunkene Heubinder Michael Henchard auf einem Jahrmarkt seine Frau Susan und seine neugeborene Tochter Elizabeth-Jane für 5 Guineen an einen Fremden. Als er am Folgetag aus seinem Rausch aufwacht und realisiert, was er getan hat, schwört er in einer nahgelegenen Kirche, dass er 21 Jahre lang (also ebenso viele Jahre, wie er bereits alt ist) keinen Alkohol mehr anrühren wolle. Er macht sich auf die Suche nach seiner Frau und seiner Tochter, doch vergeblich: Er kann sie nicht finden.

Henchard und Susan zu Beginn des Romans auf dem Weg zum Jahrmarkt (Robert Barnes Illustration der wöchentlich erscheinenden 1886er Ausgabe von Hardys ‚Bürgermeister von Casterbridge‘)

Dann springt der Roman um etwa 18 Jahre in die Zukunft. Susan, die nun den Namen ihres ‚zweiten Mannes‘, Newson, trägt, also jenem Fremden, der sie ‚gekauft‘ hatte, macht sich mit ihrer Tochter Elizabeth-Jane auf die Suche nach Henchard, da Newson, ein Seemann, auf See umgekommen ist. Es gelingt den beiden Frauen schließlich, Henchard in der Stadt Casterbridge ausfinding zu machen, wo er inzwischen als Abstinenzler und hart arbeitender Geschäftsmann die Gesellschaftsleiter emporgekletter ist und das Amt des Bürgermeisters bekleidet: Michael Henchard ist der Bürgermeister von Casterbridge. Als er Susan trifft, will er seinen alten Fehler sogleich wieder gut machen, richtet Susan und Elizabeth-Jane häuslich in Casterbridge ein, umwirbt sie und heiratet sie schließlich (ein zweites Mal – um den Schein zu wahren). Vor der Tochter halten die Eheleute das Geheimnis aus der Vergangenheit geheim.

Gleichzeitig ist ein junger Schotte in Casterbridge angekommen, dem es zufällig gelingt, Henchard aus der Klemme zu helfen, woraufhin dieser ihn als Assistenten in seinem Handelsgeschäft anstellt. So geht eine Zeit ins Land, in der alle gut für Henchard, seine Familie und sein Geschäft geht. Bis Susan eines Tages verstirbt. Henchard hält nun die Zeit für gekommen, seiner Tochter zu offenbaren, dass er ihr Vater ist (wobei er die Geschichte etwas beschönigt und nichts vom ‚Verkaufen‘ Susans berichtet). Die beiden haben gerade ihre familiären Bande geknüpft, als Henchard einen Brief von Susan findet, in dem diese ihm offenbart, dass sie ihn angelogen habe: Seine eigene Tochter Elizabeth-Jane sei damals kurz nach ihrer Trennung verstorben; das Mädchen Elizabeth-Jane sei also nicht seine Tochter, sondern die des Seemanns Newson. Nach dieser Offenbarung reagiert Henchard kühl seiner ‚Tochter‘ gegenüber, die das geänderte Verhalten ihres Vaters nicht verstehen kann.

Nach einiger Zeit wird das Verhältnis der beiden so unterkühlt, dass Elizabeth-Jane dankbar die Stelle einer Haushälterin bei einer reichen Dame annimmt, die vor einigen Tagen nach Casterbridge gezogen ist: Lucetta Templeman, Erbin eines großen Vermögens. Diese Lucetta ist eine alte Geliebte von Henchard, die bei der Rückkehr von Henchards eigentlicher Gattin Susan, das Nachsehen hatte. Nun, nach Susans Tod und als reiche Erbin, macht sie sich Hoffnungen, dass Henchard sie nun heiraten würde.

Farfrae trifft Lucetta zum ersten Mal

Doch es kommt anders: Sie begegnet zufällig Henchards schottischem Assistenten Donald Farfrae und die beiden verlieben sich ineinander. Da Farfrae auch in der Bevölkerung Casterbridges große Beliebtheit genießt, munkelt man auch, dass er wohl zum neuen Bürgermeister gewählt werde. Alles dies erfüllt sich schließlich auch, Farfrae wird der neue Bürgermeister von Casterbridge und heiratet Lucetta. Er weiß freilich nichts davon, dass Lucetta früher mit Henchard liiert gewesen ist und sie, so viel deutet der Roman an, bereits sexuellen Kontakt mit ihm hatte.

Henchard, der sich so seines Amtes und seiner Frau beraubt sieht, ändert schlagartig seine Meinung über Farfrae und sieht in ihm fortan seinen ärgsten Feind. Nachdem er ihn als Assistenten entlassen hat, gründet Farfrae sein eigenes Handelsgeschäft und wird in kurzer Zeit sehr wohlhabend. Henchard, der seinen Widersacher ausstechen will, setzt alles auf eine Karte, pokert bei seinen Geschäften sehr hoch – und verliert, verliert alles, so dass er sein Haus und all seinen Besitz verkaufen muss. Der gutmütige Farfrae stellt den mittellosen Henchard in seinem Geschäft an, doch die beiden kommen immer weniger miteinander aus, zumal die 21 Jahre von Henchards Gelöbnis um sind und er wieder beginnt, viel zu trinken.

In diesem Zustand befürchtet Lucetta, Henchard könne ihrem Mann von ihrer zurückliegenden Liaison erzählen und fordert von ihm die einst geschriebenen Briefe zurück. Henchard ist einsichtig und verspricht, ihr die Briefe auszuhändigen; er lässt sie durch einene Boten überbringen, der sie jedoch öffnet und dem ganzen Dorf davon erzählt. Das Dorf plant einen gewaltigen Streich und veranstaltet eine kleine Inszenierung, die zeigt, dass man von Lucettas Vergangenheit wisse. Von dem Schreck dieses Streiches erholt sich die schwangere Lucetta nicht und stirbt.

Henchard nimmt Abschied von Elizabeth-Jane am Abend ihrer Hochzeit

Der so verwitwete Farfrae umwirbt zwei Jahre darauf Elizabeth-Jane. Als Henchard die beiden durch ein Fernrohr beobachtet, erschrickt er, als er in der Ferne eine andere Gestalt aus seiner Vergangenheit entdeckt: der totgeglaubte Newson, der Seemann, dem Henchard seine Frau Susan ‚verkauft‘ hatte und der der leibliche Vater Elizabeth-Janes ist. Als er Newson begegnet lügt er ihn an und erzählt, dass Elizabeth-Jane tot sei. Traurig und erschüttert verlässt Newson Casterbridge und Henchard glaubt sich nun in Sicherheit. Doch die Katastrophe geht weiter ihren Lauf: Elizabeth-Jane willigt einige Monate später in die Heirat mit Farfrae ein und Henchard entdeckt, dass Newson seine Lüge durchschaut hat und wieder nach Casterbridge zurückgekehrt ist. Aus Angst vor Entdeckung seienr Lügen verlässt Henchard nach vielen Jahren als angesehener Bürger die Stadt und stirbt schließlich, völlig verarmt und entkräftet und allein. Elizabeth-Jane, die inzwischen mit ihrem leiblichen Vater wiedervereint ist und Farfrae geheiratet hat, findet das Testament von Henchard, den sie so viele Jahre für ihren Vater gehalten hatte:

„Niemand erzähle Elizabeth-Jane Farfrae von meinem Tod, damit sie nicht um mich trauere. Man begrabe mich nicht in geheiligter Erde. Niemand soll die Totenglocke für mich läuten. Niemand soll meinen Leichnam sehen. Keine Trauergemeinde soll hinter meinem Sarg hergehen. Keine Blumen sollen auf mein Grab gepflanzt werden. Niemand soll sich an mich erinnern.“ Mit diesen ernüchternden Worten endet der Roman.

Hardys Bürgermeister von Casterbridge: Roman der Trennung

Der Bürgermeister von Casterbridge ist ein Roman, in dem es sehr viele Trennungen gibt. Gleich zu Beginn erfolgt die Trennung von Michael Henchard und seiner Frau Susan, als dieser sie verkauft. Ihre Trennung soll 18 Jahre dauern, bis Susan, nach der ‚Trennung‘ von Newson (durch dessen vermeintlichen Tod), bei Michael in Casterbridge auftaucht. Daraufhin trennt sich Henchard von seiner Verlobten Lucetta Templeton, um zu seiner alten Frau zurückzukehren. Diese werden durch den baldigen Tod Susans auf immer getrennt.

Thomas Hardys ‚Wessex‘: Casterbridge ist rot eingekreist

Und gerade, als Henchard sich seiner vermeintlichen Tochter als Vater offenbart hat, erfährt er durch Susans Brief, dass keine leiblichen Bande ihn mit ihr verbinden – die emotionale Trennung ist ebenso plötzlich wie heftig. Henchard muss sich durch die Ereignisse um Susan und seine Tochter nach und nach von all seinen Ämtern trennen, die Farfrae übernimmt, ein Schotte, der getrennt von seinem Heimatland lebt, von dem er viele Lieder singt. Der Tod trennt schließlich auch Farfrae und Lucetta voneinander. Gerade als Henchard sich mit Elizabeth-Jane, die ihn immer noch für ihren leiblichen Vater hält, ausgesöhnt hat, wird diese Vater-Tochter-Beziehung durch das Erscheinen Newsons für immer getrennt. Und es ist natürlich eine bedeutungsschwangere Szene, als Henchard sich endgültig von seiner Tochter trennt: An genau dem Abend, als sie sich durch Heirat auf ewig mit Farfrae verbindet.


Nach diesen zahlreichen Trennungen, verlässt Henchard nun auch Casterbridge. Der einstige Bürgermeister trennt sich von seiner alten Wirkungsstätte. Eine Trennung, die er nur kurze Zeit überleben wird – dann trennt der Tod ihn von den Lebenden und er sich selbst durch sein Testament von allen Trauernden. Kurz, Thomas Hardys Der Bürgermeister von Casterbridge ist ein Roman, der von Anfang bis Ende das Leben als eine fortwährende Trennung beschreibt. Trennungen, die ebenso tugendhafte wie lasterhafte Menschen treffen – wobei die Folgen der jeweiligen Trennungen für die Lasterhaften eher einer Katastrophe gleichen.

In dieser Weltanschauung drückt sich der ganze Pessimismus Thomas Hardys aus. Ein Pessimismus, der Hardy in gewisser Hinsicht zu einem Seelenverwandten von Balzac macht…

Bibliographie:
Thomas Hardy, Der Bürgermeister von Casterbridge. Dt. von Eva-Maria König. Insel, 2001.
Thomas Hardy, The Mayor of Casterbridge: The Life and Death of a Man of Character. Penguin, 2012.
David Thacker, Thomas Hardys The Mayor of Casterbridge. DVD, 2003 (TV-Serie).

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