Michel Houellebecq, Unterwerfung: Was hat der Roman mit dem Islam zu tun?

michel-houellebecq-unterwerfung-2015In direkter Bezugnahme auf die Anschläge in Paris, titelte die deutsche Wochenzeitschrift FOCUS in dieser Woche: „Das hat nichts mit dem Islam zu tun. Doch!“ FOCUS-Redakteur Alexander Wendt erklärte, dass die Redaktion damit die Zusammenhänge von „islamistischem Terror“ und Islam mit „einem großen Fragezeichen“ versehen wolle. Wendt übersah anscheinend vollkommen, dass die Titelseite des FOCUS kein Fragezeichen sondern ein Ausrufezeichen setzte – und zwar in trotziger Selbstbehauptung hinter das Wort „Doch“. Mit Michel Houellebecqs neuem Roman, Unterwerfung, verhält es sich ähnlich. Er wird seit zwei Wochen sehr intensiv und vor allem kontrovers in den deutschen und internationalen Feuilletons diskutiert. Und immer wieder stellt sich die Frage, ob Unterwerfung etwas mit dem Islam zu tun habe oder nicht. Vordergründig scheint genau das der Fall zu sein, schildert der Roman doch ein Frankreich im Jahr 2022, in dem der Anführer einer „muslimischen Bruderschaft“, wie es dort heißt, zum Präsidenten der Republik gewählt wird, die er daraufhin rasch in einen islamischen Staat umbaut. Wie sollte, bei diesem Sujet, Houellebecqs neuestes Werk nichts mit dem Islam zu tun haben? Die Antwort ist einfach: Der Islam ist bei Houellebecq nicht wesentlich mehr als ein Platzhalter für eine antikapitalistische und antiliberalistische Gesellschaftsordnung. Und wer Houellebecqs Romanwerk seit Ausweitung der Kampfzone (1994) kennt, weiß, dass das eine soziale Organisationsform ist, die der Autor unbedingt begrüßt. Die Frage, die der Roman aufwirft lautet daher weniger, ob der Islam gut oder böse sei. Vielmehr fragt Unterwerfung, ob die Aufgabe von Freiheit und Selbstbestimmung nicht immer noch ein günstiger Preis für eine Befreiung vom Kapitalismus sei, mit anderen Worten: ob eine Unterwerfung unter eine beliebige Macht (wie beispielsweise einen islamisch geprägten Staat) nicht einen ernstzunehmenden Lösungsansatz für die Probleme der sogenannten „westlichen Welt“ darstelle. So betrachtet, hat Houellebecqs neuester Roman nur oberflächlich mit dem Islam zu tun.

Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek bezeichnete Houellebecq daher auch als einen „ehrlichen Konservativen,“ der „keine Angst habe, zuzugeben, dass wir uns in einer Sackgasse befinden.“ Diese Aussage machte die Printausgabe der taz vom 20. Januar 2015 auch zur Überschrift des Interviews (S. 15), während die Onlineausgabe des gleichen Interviews auf taz.de die Überschrift „Der Liberalismus braucht die Linke“ wählte. Bezogen auf Houellebecq (um den es in dem Interview mit Žižek zugegebenermaßen nur am Rande ging) ist die erste Überschrift treffender: Er ist ein Konservativer, der erkannt hat, dass wir „in einer Sackgasse stecken.“ Davon schreibt Houellebecq schließlich seit über 20 Jahren. Ihm zufolge vermögen es die unterschiedlichen sozial-psychologischen Sublimierungsstrategien immer weniger, dem Leben einen kohärenten Sinn zu geben. In anthropologischer Hinsicht betrachtet Houellebecq den Menschen als sinnverlangendes Wesen (worin ihm vermutlich kaum jemand widersprechen dürfte), so dass der Konflikt zwischen Sinnverlust und Sinnverlangen zentrales Thema aller seiner Romane ist. Sinnstiftend ist in seinem Bestsellerroman Elementarteilchen (1998) gerade noch die Wissenschaft; und auch diese nur dort, wo sie, wie im Falle des Protagonisten Michel Djerzinski, dazu beiträgt, die Geschlechtlichkeit zu beseitigen. In Plattform (2001) zeigt Houellebecq, dass auch zügellos hedonistische Sexualität und ebenso ungehemmtes Profitstreben nicht in der Lage sind, den Sinnverlust des modernen Menschen zu kompensieren oder gar zu überwinden. Emotionale Beziehungen zwischen Menschen seien ohnehin von vorneherein auf Grund unserer egoistischen Triebstruktur zum Scheitern verurteilt. Letzter Zufluchtsort menschlicher Empathie sei, so Houellebecq 2005 in seinem Science-Fiction-Roman Möglichkeit einer Insel, die Beziehung zu domestizierten (also letztlich: unterworfenen) Tieren, wie die zwischen Protagonist Daniel und seinem Hund Fox. Zu guter Letzt versagen Houellebecq zufolge auch jegliche Formen ästhetischer Sublimierung in unserer Gesellschaft: Die Kunst habe ihre metaphysische Kraft verloren und sei zur Ware degeneriert, schildert Houellebecq in seinem 2010 erschienen und mit dem renommierten Prix Goncourt prämierten Roman Karte und Gebiet (literaturen.net berichtete). Wenn also weder Konsum, noch Wissenschaft, noch Sexualität, noch Kunst in der Lage sind, dem Leben einen tieferen Sinn zu verleihen, nach welchem der Mensch doch so dürste, dann, so die Konsequenz in seinem neuesten Roman, stünde die Gesellschaft vor der Wahl zwischen einem unerträglichen Nihilismus und der Unterwerfung.

Titelseite des FOCUS (17. Januar 2015) mit trotzig-plumpem Slogan

Titelseite des FOCUS (17.01.2015) mit trotzig-plumpem Slogan und plakativer Illustrierung, die das Wort „Islam“ unmittelbar über der Abbildung eines Maschinengewehrs druckt.

Unterwerfung skizziert letzteren Weg. Denn dass der Nihilismus keine akzeptable Alternative sei, betont der Ich-Erzähler des Romans, der Literaturprofessor François, der nach eigener Aussage „darauf hofft, diese Welt ohne übertriebene Gewalt zu verlassen“, mehrfach. Auch wenn er sein Leben als sinnlos betrachtet, konstant gefährdet durch Andropause, intellektuelle Unterforderung, erhöhten Alkohol- und Tabakkonsum und eine allgemeine soziale Kälte: Der Selbstmord ist für ihn nie eine Alternative. Wiederholt befragt er sich nach seinem Lebenswillen, um immer zur selben Antwort zu gelangen: Dass er am Leben bleiben wolle, ganz gleich, wie sinnlos es auch sei. In den langen Fachgesprächen mit seinen Kolleginnen und Kollegen an der Pariser Sorbonne erhält die Frage nach dem absoluten Nihilismus seine philosophische Untermauerung durch stete Verweise auf das Werk Friedrich Nietzsches. Dieses zieht François abwechselnd an und stößt ihn ab. Es vermag ihn zu begeistern; er gesteht: „Mit zunehmendem Alter näherte auch ich mich Nietzsche immer mehr an, was zweifellos unvermeidlich ist, wenn man untenrum Probleme hat.“ Dann wieder grenzt er sich ab, wenn er sagt, Nietzsche „vermochte mich nicht mehr in seinen Bann zu schlagen“ und sogar mit Nachdruck betont: „Ich bin nicht Nietzsche“. Nietzsche wird von François, etwas überraschend, als lebensfeindlicher Nihilist verstanden, dessen Philosophie konsequenterweise zu Selbstmord führen müsse.

Diese reichlich oberflächliche und zuweilen schlicht falsche Nietzsche-Lektüre ist sicherlich nicht der einzige Schwachpunkt in der Argumentation des alternden Sorbonne-Professors. Auch in seinen Ansichten über den Islam verstrickt sich François zunehmend in Widersprüche (die wohlgemerkt nicht Houellebecqs eigene sind). Anders als in Houellebecqs Roman Plattform sind Moslems in Unterwerfung nicht mehr bloß turbantragende Bombenwerfer, die danach trachten, die letzten Rückzugsgebiete westlicher Glückseligkeit (vulgo: Gangbangclubs und Bordelle) in die Luft zu jagen. Die fiktive „Bruderschaft der Muslime“ sowie deren Anführer Mohammed Ben Abbes, der spätere Präsident der Cinquième République française, setzt im Jahr 2022, ganz entgegen dem nationalistischen Trend, auf demokratische Werte, um ihre Ziele durchzusetzen. Sie stehen ein für Bildung und Familie, für Versammlungsfreiheit, für intellektuellen Austausch und sogar für religiöse Diversität (wobei es sich Houellebecq nicht nehmen lässt, seinen Erzähler wiederholt das schwierige Verhältnis einiger dieser „Muslimsbrüder“ zu den französischen Juden zu konstatieren). Die islamisch geprägte Demokratie fegt dann im Laufe des Romans die, wie es heißt, „allerletzten Überbleibsel einer agonisierenden Sozialdemokratie“ hinweg; ebenso die „europäischen Institutionen die zurzeit alles andere als demokratisch sind.“ An ihre Stelle tritt der muslimische Präsident Ben Abbes, von dem eine der Figuren im Roman sagt: „zum Glück hat Ben Abbes faktisch die alleinige Macht“.

Ohne Frage: Was der Autor hier schildert trägt Züge einer Diktatur. Weit davon entfernt, ein eutopischer Roman zu sein, ist Unterwerfung trotzdem noch lange kein dystopischer Roman, wie etwa George Orwells 1984. Die Umwälzungen, die über weite Strecken des Romans als drohendes Ereignis am Horizont zu sehen sind, die, wie es einmal heißt, „Vorahnung einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe“ – all das erweist sich bei Houellebecq nach dem Regierungswechsel als überraschend unspektakulär, ja, mehr noch: als durchweg positiv. Die französischen Frauen fügen sich scheinbar widerstandslos in das Schicksal, das sie aller öffentlichen Ämter enthebt; französische Juden verlassen unbekümmert das Land und bauen sich mühelos eine zweite Existenz in Israel auf; französische Männer konvertieren in großer Zahl zum Islam und kommen in den Genuss seiner Vorzüge (im Roman bestehen diese vor allem in der Polygamie). Dennoch: die Arbeitslosenquote geht gegen Null (eine Folge der Nichtbeschäftigung von Frauen), die Kriminalitätsrate sinkt selbst in den gefährlichsten Pariser Banlieues auf ein zu vernachlässigendes Maß, und – ebenfalls überraschend – die Förderung ökologisch nachhaltiger Technologien wird zu einem Hauptanliegen der Regierung, da diese sich zunehmend von den „Petrodollars“ aus Saudi-Arabien unabhängig machen möchte (ein kurzer, skizzenhafter Ausblick auf mögliche zukünftige Konflikte in diesem islamisch geprägten Frankreich).

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Michel Houellebecq im Jahr 2008. [Bildquelle: Mariusz Kubik, http://www.mariuszkubik.pl – Lizenz: CC BY 3.0]

So überlegt auch der Ich-Erzähler immer mehr, ob es nicht eigentlich in jeder Hinsicht besser sei, sich dieser neuen sozialen, politischen und kulturellen Ordnung zu unterwerfen. Im letzten, langen Absatz des Romans malt er sich sein Leben als gläubiger Moslem aus – durchweg im Konjunktiv Futur; der letzte Satz von Unterwerfung: „Ich hätte nichts zu bereuen.“ Doch ob es wirklich zu François‘ Konversion kommt, lässt der Roman offen. Dieses Detail ist letztlich ebenso unwichtig für Houellebecq wie die Frage, ob die Macht, der sich eine künftige, antikapitalistische Gesellschaft unterwerfen werde, ja: müsse, der Islam sei oder eine andere. Es ist wohl vor allem Houellebecqs islamophoben Äußerungen nach der Veröffentlichung von Plattform zuzuschreiben, dass seine Leserschaft dazu neigt, in Unterwerfung eine Dystopie „islamistischer“ Herrschaft zu lesen. In neueren Interviews hat sich Houellebecq von seinen damaligen Aussagen teilweise distanziert. Er sagte kürzlich sogar, dass er nun endlich den Koran gelesen, und die Lektüre ihm sehr gefallen habe. Das mag nicht viel mehr als Strategie zur Vermarktung seines neuen Romans sein, jedoch bleibt nach der Lektüre von Unterwerfung die (auf so plumpe Weise, weil als rhetorische, vom FOCUS gestellte) Frage offen, was das ganze denn nun mit dem Islam zu tun habe. Es lässt sich nur vermuten: Recht wenig. Denn eigentlich handelt sich bei Michel Houellebecqs neuestem Roman um eine Neufassung seiner bisherigen Romane. Und deren Thema war eine stetige Kritik am westlichen Kapitalismus durch schmerzvoll-detaillierte Beschreibung seiner Sinnlosigkeit. Nicht mehr, nicht weniger ist Unterwerfung. Irgendwie also eine erzählerische Ausgestaltung des Buches Kohelet, das nicht nur den allgemeinen Egoismus des Menschen betont, sondern auch feststellt: Nichts Neues unter der Sonne. Nichts Neues also bei Houellebecq.

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