Lutz Seiler, Kruso: Deutscher Buchpreis 2014

Literaturpreise sind Vermarktungsinstrumente und gehorchen folglich den Gesetzen des Marktes, nicht denen der Ästhetik. Letzteres ein altertümlich anmutendes Wort, das zuletzt vielleicht bei Adorno noch einen Wert hatte. Danach stand es für einige Zeit noch im Kurs. Heute ist es entwertet. Traditionell war sie die Lehre der Schönheit, vor allem der der Kunst. Heute ist sie das stets Suspekte, letztlich das Nichtauthentische das immer gekünstelt ist. Seine Komposita sind Schönheitsindustrie, Schönheitschirurgie, Schönheitsfarm und was der Lifestyle einem müde gewordenen Publikum sonst noch nahelegt. Kurz: Schönheit ist das, bei dem man getrost abschalten kann ohne etwas zu verpassen. In der Kunst hat sie nichts zu suchen. Vielleicht verwundert es daher auch nicht, dass der Deutsche Buchpreis 2014 an Lutz Seilers Roman Kruso vergeben wurde. Ein Roman, dem Schönheit ebenfalls ein Fremdwort ist, Schönheit der Sprache, Schönheit der Form. Der Abschaltreflex setzt nicht ein, man liest weiter, ein wenig wie Verkehrsunfall. Das Sujet wird’s schon richten, DDR. Ein schwacher, ideenloser, unästhetischer Roman, der symptomatisch für die Sackgasse ist, in die sich der deutsche Roman der letzten Jahre geschrieben hat.

Berlin. Da beginnt der Roman. Hiddensee. Da will er hinerzählen. Das schafft er nicht, ohne im zweiten Absatz von einer Wüste zu erzählen: „Am Horizont ein Kamel, das näher kam. Es schwebte in der Luft und wurde dabei von vier oder fünf Beduinen gehalten, was ihnen einige Mühe zu bereiten schien. Die Beduinen trugen Sonnenbrillen, sie beachteten ihn nicht.“ Hier fährt ein junger Mann durch Berlin (von dem er nach Selbstaussage nicht viel weiß) und imaginiert eine Wüste. Mag sein, dass das Berlin des Jahres 1989 bei Erstbesuchern Assoziationen einer Wüste erweckt oder dass die Assoziationskette von wüster Leere zu leerer Wüste führt. Elegant erzählt ist das am Ende dennoch nicht. Wer Charles Dickens‘ Roman Bleak House kennt, wird sich an den Vergleich zwischen viktorianischem London und der Dinosaurierzeit erinnert fühlen, den der Erzähler dort im ersten Absatz aufstellt. Und man wird sich erinnern, mit welcher erzählerischen Brillanz Dickens diese Beziehung erstellt und wie sie den semantischen Horizont von „verregnet-nebliges London“ erweitert und zu sprengen droht. Die plumpen Sprünge und bemühten Bilder in Seilers Roman sind so plakativ, dass sich ihre Bedeutung nicht erst herstellen muss, dass die Imaginationskraft des Lesers nicht benötigt wird. Wo der viktorianische Romancier ein Dreigängemenü bereitet, liefert Kruso Tiefkühlkost: Fertig zum auftauen, runterschlingen, verdauen und nicht weiter drüber nachdenken.

Das Ende des Romans stimmt nicht versöhnlich. Ein Epilog im Westen, in Kopenhagen, Dänemark. „Das Land, die Stadt, das alles war neu für mich, und zeitweise hatte ich das Gefühl, mich auf einer Art Expedition zu befinden, einer Entdeckungsreise, eine Prüfung vielleicht, aber auch das gehört nicht in diesen Bericht. […] Das Gelände des Rigshospitalet schien riesig, eine Art Krankenhaus-Manhattan, umgeben von Freiflächen, die den Hudson symbolisierten.“ Dass der Protagonist ausgerechnet im beschaulichen Kopenhagen das symbolträchtige New York imaginiert und von den Größen und Weiten überwältigt ist – das mag ebenso realistisch sein, wie die Wüste/Berlin-Assoziation aus dem ersten Kapitel von Kruso. Jedoch fehlt  es auch solchen Bildern an Poetizität. Den Wandel, noch dazu den plötzlichen oder als plötzlichen und radikal empfundenen, haben auch hier Romanciers vergangener Generationen präziser zu beschreiben gewusst, als mit einem literarischen Bild, das irgendwo zwischen „eigentlich glaubwürdig“ und „amüsant-liebenswert“ seine müde Stellung bezieht. Auch hier sei noch einmal auf Dickens verwiesen, der die Schrecken des Eisenbahnbaus, der ganze Londoner Stadtteile samt Bewohnern in wenigen Jahren ebenso radikal hinwegfegte wie die Wende so manche ostdeutsche Stadt, in seiner überfordernden Faszination und Schrecknis beschrieb, etwa in Dombey and Son. Einen Satz wie „Das alles wirkte auf ihn wie die großen Alleen in Paris“ brauchte der viktorianische Romancier nicht (er hätte ihn wahrscheinlich nie aus der Feder bekommen), dafür hatte er ein zu tiefes Verständnis für poetisch geformte Sprache, die er nutzte um die Eisenbahn in seinen Texten rhythmisch hörbar zu machen: „Away, with a shriek, and a roar, and a rattle, […] through the fields, through the woods, through the corn, through the hay, through the chalk, through the mould, through the clay […] like as in the track of the remorseless monster, Death!“ (Dombey and Son, Ch. 20)

Die Erzählkunst der Realisten, das eigentlich Ästhetische ihres Erzählens, lebte fort bis in den Modernismus. Döblin, Th. Mann, Woolf, Joyce, Gide, Dos Passos – für all diese Erzähler bildete Erzählen und Erzähltes, Form und Inhalt, noch eine Einheit. Sie alle hatten noch eine Idee von der Welt, die, gleich ob richtig oder falsch, ihre Werke bestimmte. Ein Romanautor wie Seiler, so muss das Urteil eines jeden geschulten Lesers unzweifelhaft lauten, hat nichts von alledem. Wie eingangs gesagt, gehorchen Buchpreise aber auch nicht den Gesetzen der Kunst, sondern denen des Marktes. Und der Deutsche Buchpreis wird, bezeichnenderweise, vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels vergeben – und Börsenvereine haben sich in den letzten 3.000 Jahren Literaturgeschichte selten als Kunstkenner hervorgetan. Entsprechend darf die Jury an Lutz Seilers Kruso auch eine „lyrische, sinnliche, ins Magische spielenden Sprache“ ausfindig machen und loben (Quelle: deutscher-buchpreis.de). Wenn ein Dichter die magisch-lyrische Schönheit der diesjährigen Börsenkurse hervorhebt, wird ihn der Börsenverein nicht ernst nehmen. Die deutsche Literatur sollte das ähnlich halten und nicht ganz so ernst nehmen, was dort als Buch des Jahres gepriesen wird.

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