Houellebecq, Karte und Gebiet. Rezension

Der Roman Karte und Gebiet (frz.: La carte et le territoire) (2010) ist Houellebecqs fünfter Roman. Zuvor hatte der französische Autor veröffentlicht: Ausweitung der Kampfzone (1994), Elementarteilchen (1998), Plattform (2001) und zuletzt Die Möglichkeit einer Insel (2005). Diese Aufzählung hat in dieser Rezension zu Houellebecqs neuestem Roman Karte und Gebiet durchaus ihre Berechtigung, denn Houellebecq tritt nicht nur selbst als Figur in diesem Roman auf, er wird auch ständig als Autor der o.g. Romane erwähnt. Im einen Satz öffnet „der Autor von Elementarteilchen die Tür“, im nächsten gießt sich „der Autor von Die Möglichkeit einer Insel einen chilenischen Rotwein ein“, ein paar Zeilen später schließlich beginnt der „Autor von Plattform dies und das zu tun“… Was wie ein leicht narzisstischer Tic wirkt, ist jedoch in Wahrheit grundlegendes Programm des Romans: Kunst, Künstler und Kunstmarkt. Damit beschreitet Houellebecq ein für ihn erzählerisches Neuland und um es gleich vorwegzunehmen: auf seinem Spaziergang durch dieses Neuland gerät er öfter ins Straucheln und der Roman entgleitet ihm zusehends.


Gleich auf den ersten Seiten wird das gesamte weitere Programm des (in der deutschen Übersetzung) 416 Seiten starken Romans vorgestellt. Der zu diesem Zeitpunkt der Romanhandlung noch unbekannte Künstler Jed Martin scheitert an der künstlerischen Bearbeitungen seines Gemäldes „Damien Hirst und Jeff Koons teilen den Kunstmarkt unter sich auf“. Zu seinem künstlerischen Problem gesellt sich ein weltliches: Es ist Winter und sein Heizkessel gibt den Geist auf. Fertig. Dieses kleine Hanldungssegment, das auf den ersten paar Seiten ausgebreitet wird, ist das einzige Material, das der Roman auf den folgenden 400 Seiten bearbeiten wird: künstlerische Schwierigkeiten auf der einen Seite; weltlich-banale Probleme auf der anderen Seite. Dieses Grundschema dekliniert Houellebecq sowohl an seiner Hauptfigur Jed Martin durch, als auch an den meisten anderen Figuren: an Jeds Vater, an Jeds Galerist Franz, am Polizeikommissar Jasselin und an dem Schriftsteller Michel Houellebecq.

Ergänzt wird dieses Grundschema durch eine für Houellebecq typische pessimistische Kulturkritik, bei der Menschen schlecht und Hunde gut wegkommen. Die Figur Houellebecq schafft sich nach überwundener Nervenkrise im Roman einen Hund namens Platon an und der Polizeibeamte, der später im Mordfall Houellebecq ermittelt, erinnert sich über mehrere Seiten mit Wonne an seine beiden Hunde zurück. Das erinnert freilich ein bisschen an frühere Romane von Houellebecq, wie z.B. Möglichkeit einer Insel. Was Houellebecq-Kenner jedoch fast vollständig an gewohntem Material vermissen werden, sind explizite Sex-Szenen. Sexualität spielt in Karte und Gebiet eine absolut untergeordnete Rolle. Houellebecq kann sich einen kleinen metafiktionalen Scherz dazu nicht verkneifen; als die Polizisten nach der Ermordung Houellebecqs seinen Computer durchsuchen, finden sie keine Pornofilme und auch keine Hinweise darauf, dass Houellebecq jemals pornographische Seiten im Internet besucht hat.

Denn ja, Houellebecq taucht im zweiten Teil des Romans auf, um gleich zu Beginn des dritten Teils auf bestialische Weise ermordet zu werden. Der Roman erfährt so eine etwas gekünstelte Dreiteilung, bei der Jed Martin, der Maler, Protagonist des ersten Teils ist; Michel Houellebecq, der Schriftsteller, der zu einem Katalog von Jed Martin ein Vorwort schreibt, ist die zentrale Figur des zweiten Teils; und Kommissar Jasselin, der versucht, den Mord an Houellebecq aufzuklären, ist zentrale Figur im dritten Teil. Wie auf dem, auf den ersten Seiten erwähnten, Gemälde, das Jeff Koons und Damien Hirst bei der Aufteilung des Kunstmarktes zeigt, werden so die einzelnen Teile des Romans aufgeteilt: in bildende Kunst, in Wortkunst und in die praktische Kunst polizeilicher Ermittlung.

Michel Houellebecq: "painted portrait" by thierry ehrmann via flickr.com

Abgeschlossen wird diese Dreiteilung durch einen ereignisarmen Epilog, der um die 2030er Jahre spielt; darin kehrt der Roman noch einmal zu Jed Martin und dessen Alterswerk zurück, das aus einer Video-/Foto-Installation zu bestehen scheint, die den Verfall von Fotos und Playmobilfiguren mit dem Überwuchern der Natur, der Vegetation, doppelbelichtet. Damit schließt sich ein Kreis: Während der Anfang des Romans von der Zerstörung der Kunst handelte (Jed Martin zerstört sein Gemälde „Damien Hirst und Jeff Koons…“), handelt das Ende von der Kunst der Zerstörung (des natürlichen Verfalls und der künstlich beschleunigten Zerstörung). Und auch hier wird der künstlerische Diskurs mit dem weltlichen kurzgeschlossen, denn Jed Martin leidet bei der Arbeit seines letzten Kunstwerks bereits an Krebs im Endstadium.

Der Roman gewann im vergangenen Jahr in Frankreich den Prix Goncourt, die höchste literarische Auszeichnung im französischsprachigen Raum. Die Reaktion der nationalen wie internationalen Presse hingegen ist bestenfalls ‚durchwachsen‘ zu nennen. Nur wenige Rezensenten sehen in Karte und Gebiet ein „Meisterwerk“, wie z.B. Helmut Böttiger in der SZ vom 16.03.2011. Die meisten Kritiker sehen in ihm das Erzeugnis eines „unglaublich schlecht gelaunten, vollkommen humorlosen und verzweifelten Autoren“, wie Iris Radisch in Der Zeit vom 16.03.2011 schreibt. Manche Kritiker hingegen sind jedoch richtiggehend erzürnt (vielleicht ein schwaches Aufblitzen der polarisierenden Qualität bisheriger Romane von Houellebecq), wie z.B. Ines Kappert in der taz vom 17.03.2011, die sich beklagt, dass der Roman dem Leser durch die „Aneinanderreihung von Binsenwahrheiten erfolgreich die Zeit stehle“.

Houellebecqs Roman ist keineswegs schlecht zu nennen. Passagenweise ist er sogar wirklich brilliant (v.a. in den ästhetischen Diskussionen der Romanfiguren; sowie in dem sachlichen Wuchern der Produktwelt, das den Roman durchzieht). Insgesamt wird er die Houellebecq-Enthusiasten vermutlich durch mangelnden Zynismus enttäuschen; die eher zufälligen Leser hingegen, die mit Houellebecq bisher nicht vertraut sind, durch seine streckenweise Belanglosigkeit. Der Kunstdiskurs hingegen mag für akademische Leser gerade noch so von Interesse sein und wird zweifelsfrei für zahlreiche Publikationen sorgen, zumal Houellebecq bestimmte Referenztexte der philosophischen Ästhetik nennt, bzw. auf sie anspielt: Da ist Houellebecqs Hund Platon, das Haus von Houellebecqs ist nahe dem Heidegger-Weg und dem Kant-Platz; Jed Martins Vater hält eine flammende Rede gegen die Architektur Le Corbusiers und des Bauhauses; und Houellebecq und Martin reden begeistert über Wirkung und Einfluss von William Morris… Fast könnte man vermuten, dass der Schriftsteller Houellebecq damit Dissertationen mit Titeln wie „Die ästhetische Konzeption der Präraffaeliten im Romanwerk Houellebecqs“ provozieren möchte, um sich in seinem nächsten Roman über diese Kultur- und Wissenschaftsproduktion lustig machen zu können.


Warten wir ab, was der Roman Karte und Gebiet hervorbringen wird. Er selbst jedoch ist keineswegs ein Meisterwerk, sondern vielmehr ein versponnener und langatmiger Roman über die Kunst und das Leben, ohne dabei eins von beiden wirklich näher bringen zu können. Die vor rund anderthalb Jahren auf literaturen.net gemachte (und freilich nicht immer ganz ernst gemeinte) Spekulation über Houellebecqs fünften Roman (siehe hier) hätte uns als tatsächlicher Roman vielleicht sogar besser gefallen…

Michel Houellebecq, Karte und Gebiet. Aus dem Französischen übersetzt von Uli Wittmann. Köln: Dumont, 2011. 416 Seiten. ISBN: 978-3832196394.

Bildnachweis: „Michel Houellebecq painted portrait _DDC2379“, by thierry ehrmann (Abode of Chaos) via flickr.com (Lizenz: CC BY 2.0). Link zum Bild.

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