Gerhart Hauptmann, Einsame Menschen (1891)

gerhart-hauptmann-einsamen-menschen-ullstein-coverGerhart Hauptmann war ein Vielschreiber. Daher verwundert es nicht, dass es eine Vielzahl literarischer Werke Hauptmanns gibt, die nur einem kleinen Publikum bekannt sind. Denn ist von Gerhart Hauptmann die Rede, denken die meisten sofort an Die Weber, an Bahnwärter Thiel, an Vor Sonnenaufgang oder an Die Ratten. Vielleicht auch an Hauptmanns Filmschaffen, an die Verfilmung seines Romans Atlantis (verfügbar auf YouTube), an seine Mitarbeit bei Murnaus Faust (YouTube), an Murnaus Film Phantom, der mit einer langen Einstellung beginnt, in der Hauptmann selbst über Feldwege schreitet (YouTube). Dabei ist die relative Unbekanntheit eines Großteils von Hauptmanns Werken weniger deren geringerer ästhetischer Qualität geschuldet. Vielmehr haben sich die Verlage nicht gerade vorbildhaft um den Literaturnobelpreisträger bemüht. Abgesehen von einigen günstigen Ausgaben der o.g. Texte für den Schulgebrauch, werden die Werke Hauptmanns nicht mehr verlegt. Wer sie lesen möchte, muss versuchen, antiquarisch an die vergriffenen Exemplare zu gelangen, auf eine gut sortierte Bibliothek vertrauen, oder hoffen, dass eine der nahegelegenen Bühnen ein selteneres Hauptmann-Stück auf den Spielplan setzt. Das frühe Drama Einsame Menschen ist eines dieser unbekannteren Hauptmann-Stücke, wenngleich es in den letzten Jahren durch diverse Inszenierungen an großen und kleinen Bühnen (Stuttgart, Düsseldorf, Berlin, Tübingen; vor kurzem: Bochum; in Kürze: Köln) eine kleine Renaissance erlebt hat.

Inhaltsangabe, Einsame Menschen

Das Stück spielt im Haus des promovierten Philosophen Johannes Vockerat, das am Berliner Stadtrand, am Müggelsee, liegt. Vockerat und seine junge Frau Käthe haben gerade einen Sohn bekommen. Doch auch die Geburt des Kindes vermag nicht über die Probleme der Ehe hinwegzutrösten. Vockerat leidet an zunehmenden Schreibblockaden und damit verbundenen Existenz- und Versagensängsten, die ihm seine Frau Käthe (die nicht studiert hat) nicht nehmen kann. Vockerat projiziert seine beruflichen Sorgen auf die Ehe, was dazu führt, dass Käthe in wachsender Unruhe lebt, ihrem Mann nicht die richtige Frau sein zu können.

Das Drama beginnt unmittelbar nach der Taufe des Sohnes. Braun, einer der wenigen Freunde, die Vockerat hat, ist zu Gast im Haus. Ihn besucht eine ehemalige Kommilitonin, die Braun noch aus Pariser Studienzeiten kennt: Anna Mahr. Sie ist eine ebenso attraktive wie kluge Frau, mit viel Charme und großem Selbstbewusstsein. Vor allem aber ist die emanzipierte Studentin das genaue Gegenbild zu Vockerats Frau Käthe. Kein Wunder also, dass der verzweifelte Vockerat sich umgehend in Anna verliebt, da er in ihr die geistige Gefährtin zu erkennen meint, nach der er sich so gesehnt hat. Der intellektuelle Austausch mit Anna Mahr beflügelt auch die Arbeit an seinem Manuskript.

Schon bald jedoch ahnen Käthe und Vockerats Mutter, dass sich zwischen Johannes und Anna mehr als nur ein geistiger Austausch abzuspielen scheint. Auch sorgen sie sich, dass Johannes über seiner Affäre mit Anna seine häuslichen Pflichten vernachlässigt. Beide hoffen daher auf eine baldige Abreise Annas. Doch Johannes will davon nichts wissen. Er überredet Anna immer wieder, ihren Aufenthalt zu verlängern. Erst, als Johannes‘ Familie auf Anna dringt, entschließt sich diese schweren Herzens abzureisen. In einer emotionalen Abschiedsszene sehen Anna und Johannes ein, dass es keine Hoffnung gibt, dass sie ihre Affäre weiterführen können und dass sie sich trennen müssen. Anna reist ab. Johannes ist verzweifelt und niedergeschlagen. In dieser Krise schreibt er einen Abschiedsbrief und rudert in seinem Boot auf den Müggelsee, um sich zu ertränken.

Einsame Menschen: Akademikerdrama?

Gerhart HauptmannDie Attraktivität von Einsame Menschen besteht gerade darin, dass Hauptmann hier, anders als in seinen Stücken Die Weber oder etwa seiner berühmten Novelle Bahnwärter Thiel, keine Arbeiter schildert, sondern einen Akademiker. Einsame Menschen ist ein seltener Fall von Intellektuellendrama und schildert die innere Zerrissenheit der gebildeten Klasse. Wenngleich Käthe mehrfach mahnt, dass Johannes Sorglosigkeit in der Haushaltsführung sie noch in den Ruin treiben werde, leben die Vockerats vordergründig befreit von existenziellen Nöten. Johannes Ängste und Sorgen sind nicht materieller Natur, sondern geistiger. Er sucht nach einem tieferen Sinn für sein Dasein, das er als erklärter Atheist nicht in der Religion finden kann. In den Gesprächen mit seinen Eltern wird dabei immer wieder deutlich, dass sein Atheismus das Ergebnis eines langwierigen und schmerzvollen Abnabelungsprozesses ist, der Johannes viel Kraft gekostet haben muss. Der religiöse Sinnverlust wiegt jedoch nicht das metaphysische Sinnverlangen auf und so sucht Johannes Vockerat weiter nach dem Sinn seines Lebens: Er sucht ihn in häuslicher Liebe und der Erfüllung seiner ehelichen Pflichten; er sucht ihn in der wissenschaftlichen Forschung und der akademischen Karriere; er sucht ihn in der Einfachheit und Einsamkeit des abgeschiedenen Landlebens. Doch sein Suchen bleibt erfolglos.

Bis Anna Mahr kommt und seinem Denken eine neue Richtung gibt. Seinem biederen Eheleben setzt Anna das Versprechen einer wilden Erotik entgegen. Sie hilft ihm durch rege Diskussion aus seinen intellektuellen Sackgassen heraus und befruchtet sein Denken. Die Abgeschiedenheit des eintönigen Landlebens verwandelt sie in einen locus amoenus, in ein ländliches Idyll, das zu Schäferstündchen und Waldspaziergängen gleichermaßen einlädt. Kurz: Sie stellt Johannes‘ Leben auf den Kopf. Wo er vorher zögernd und unentschlossen war, tritt er nun selbstsicher und bestimmt auf; wo er vorher verzweifelt war, ist er nun lebensfroh. Mit der Abreise Annas sieht Johannes sein neues, besseres Leben gefährdet. Er fürchtet den Rückfall in das monotone Einerlei seines Lebens vor Annas Ankunft. Wenn Anna es geschafft hat, seinem Leben einen neuen Sinn zu geben, muss ihm ihre Abreise wie ein erneuter Sinnverlust (nach dem religiösen) vorkommen. Das stürzt ihn in tiefe Verzweiflung und er beschließt, sich das Leben zu nehmen.

Das Drama schildert zum einen die Schwierigkeit einer Vereinigung bildungsnaher und bildungsferner Lebenswelten. Johannes und seine Familie sprechen, so wird es mehrfach im Drama geschildert, nicht die gleiche Sprache, sie denken nicht in den gleichen Kategorien, sie haben nicht den gleichen Lebenssinn. Johannes wirft seiner Frau Käthe vor, zu sehr über die Familie und zu wenig über die Welt nachzudenken:

Na ja! Du hast eben immer deine Familieninteressen, und ich habe allgemeine Interessen. Ich bin überhaupt kein Familienvater. Die Hauptsache ist für mich, dass ich das, was in mir ist, rausstelle. Wie Pegasus im Joch komm‘ ich mir vor. Ich werde noch mal ganz und gar dran zugrunde gehen. (Akt 2)

So prophetisch wie diese Worte sich in Hinblick auf den Ausgang des Dramas erweisen werden, so deutlich zeugen sie auch von Johannes‘ überspannter Nervosität. Figuren aus der griechischen Mythologie, meist tragische, präformieren seine Selbstwahrnehmung als zu Unrecht leidender, dessen einziger Ausweg am Ende der Selbstmord bleibt. Anna Mahrs Erscheinen ist, das wird in der Charakterzeichnung von Johannes deutlich, nur ein kurzer Aufschub des Unausweichlichen, da mit ihrer zwangsläufigen Abreise der letzte Rest Lebenswille aus Johannes weicht:

Helfen Sie mir, Fräulein Anna! […] Mir ist alles entwertet, beschmutzt, besudelt, entheiligt, in den Kot gezogen. Aber ich fühle, dass ich etwas war, durch Sie, Ihre Gegenwart, Ihre Worte – und wenn ich das nicht wieder sein kann, dann . dann kann mir auch alles andre nicht mehr nutzen. Dann mach‘ ich einen Strich unter die Rechnung und – schließe – ab. (Akt 5)

Es entspricht der naturalistischen Überzeugung des frühen Hauptmann, dass diese Widersprüche nicht durch einen Akt der Selbstverleugnung aufgelöst werden können, sondern notwendig in die Katastrophe führen. Diese resignative Überzeugung wird im Drama von Johannes‘ Frau Käthe ausgesprochen, nachdem sie hat einsehen müssen, dass ihre Ehe nicht mehr zu retten ist. Sie stellt fest:

Aber man kann eben nicht gegen seine Natur: das ist das Unglück! (Akt 4)

In seiner sprachlichen Intensität, der Dramatik der Figurenzeichnung und dem ungewöhnlichen Sujet, ist Hauptmanns Drama Einsame Menschen ein ganz besonderer Beitrag zur naturalistischen Literatur. Zurecht wird das Stück in den letzten Jahren immer häufiger aufgeführt und es steht zu hoffen, dass ein Verlag es bald wieder ins Programm nehmen wird. Bis dahin sind Leser auf antiquarische Ausgaben von Einsame Menschen angewiesen.

Weitere Quellen:
Tilman Spengler auf BR Alpha über Hauptmanns Einsame Menschen.
Digitalisierte Ausgabe des Dramas zum Download auf archive.org.

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