Emile Zola, Thérèse Raquin, Stilanalyse

Emile Zola[Fortsetzung einer Artikelreihe, deren erster Teil eine Inhaltsangabe von Thérèse Raquin beinhaltet.]

Nach der Zusammenfassung der Handlung und der kurzen Skizze der Genese des Romans sowie seiner ersten Rezeption, komme ich im zweiten Teil zu dem was mehr der eigentlichen Interpretation von Thérèse Raquin entspricht.

Zunächst werde ich etwas zum Stil von Emile Zola in Thérèse Raquin sagen. Besonders zu der knappen aber wirkungsvollen Grausamkeit des Romans, die sich in kurzen, fast skizzenhaften Szenen entwickelt und dennoch eine volle Wirkung auf den Leser entfaltet.

Abschließend dann (in Teil 3 der Analyse von Thérèse Raquin), werde ich einen prominenten Diskurs des Romans herausgreifen und näher skizzieren. Denn parallel zu dem prominenten sexuellen und dem nicht minder prominenten moralischen Diskurs gibt es ein Diskursfeld, das den Roman durchgehend beeinflusst. Die Rede ist vom physiognomischen Diskurs.


2. Zum Stil von Emile Zola in Thérèse Raquin

Zolas Stil, noch dazu seinen Frühstil, in wenige Worte zu fassen, ist nicht möglich. Allgemein wird sein Stil dem Naturalismus zugerechnet. Jedoch ging Zola selbst auf diesen Begriff erst 13 Jahre nach Erscheinen von Thérèse Raquin ein, nämlich in seiner Schrift Le roman expérimental aus dem Jahr 1880. Dort schreibt er markanterweise:

Le but de la méthode expérimentale, en physiologie et en médicine, est d’étudier les phénomènes pour s’en rendre maître.  (Zola, Le roman expérimental, S.11)

Das naturwissenschaftliche Ideal des Experiments soll in seiner Form also auch auf die Poetik anwendbar sein. In der Folge wird sich Zola mit dem Problem beschäftigen, dass die Kluft zwischen einer photorealistischen Wirklichkeitswidergabe und der allgemeinen literarischen impossibilite d’être strictement vrai aufwirft. Im gleichen Jahr, in dem der Essay veröffentlicht wurde, erschien auch Zolas vielleicht berühmtester Roman Nana (1880). Zola hatte für diesen Roman eine Unzahl an Studien betrieben, um das Milieu und den sprunghaften Charakter von Nana richtig darzustellen.

Wenn man den Beginn von Zolas naturalistischer Phase also in etwa um das Jahr 1880 ansiedelt, ist fraglich, ob sich der Roman Thérèse Raquin tatsächlich schon dem Naturalismus zurechnen lässt. Thematisch ist das mühelos denkbar, zumal Zola eine Vielzahl der Themen aus Thérèse Raquin in seinem späteren Roman La Bête humaine (1890) wieder aufgreift. Das Genre von Thérèse Raquin ist jedoch eher im Bereich psychologischer Roman zu verorten. Mit Thérèse Raquin als psychologischem Roman, reiht sich Zola in eine Reihe von Autoren ein, unter denen so berühmte Namen wie K.Ph. Moritz, Dostojewskij, Thackeray, Lermontow, Musil und Schnitzler (um nur einige wenige zu nennen).

Das wesentlichste Merkmal des psychologischen Romans ist die Konzentration auf das Erzählen innerer Vorgänge. In Zolas Roman findet diese Fokussierung vor allem im letzten Drittel statt. Die beiden Mörder haben geheiratet, Madame Raquin ist durch einen Schlaganfall am ganzen Körper gelähmt und hat durch eine Unvorsicht der Mörder von deren Schuld erfahren. Ungefähr hier beginnt der Roman fast ausschließlich zwischen den Bewusstsein der drei Figuren, Laurent, Thérèse und Madame Raquin, zu oszillieren. Schlaglichtartig beleuchtet er das psychologische Drama, das sich zwischen ihnen entfaltet und das vor allem ein Drama der Ohnmacht ist. Während Laurent ohnmächtig mit ansehen muss, wie seine Libido versiegt, versucht Thérèse mit aller Kraft, aber erfolglos, ihre Schuld loszuwerden. Madame Raquin ist in ihrer körperlichen Ohnmacht unfähig, die Schuldigen zu bestrafen.

Für die Darstellung des Bewusstseins der Figuren benutzt Zola in erster Linie die Technik der erlebten Rede. So z.B. in einer Szene, in der Laurent durch Paris schlendert, nachdem er festgestellt hat, dass seine Frau als Prostituierte arbeitet. Die Gedanken, die Laurent während dieses Spaziergangs hat, werden in erlebter Rede, d.h. ohne so genanntes ‚verbum credendi‘ (wie z.B. ‚dachte er‘ oder ‚ging ihm durch den Kopf‘), dargestellt – Figuren- und Erzählerrede überlagern sich und schaffen so einen hohen Grad an Mittelbarkeit (der später nur vom ’stream of consciousness‘ übertroffen wurde):

Thérèse lui était devenue étrangère à ce point, qu’il ne l’entendait plus vivre dans sa poitrine ; il l’aurait vendue et livrée cent fois pour acheter une heure de calme.

Geburtshaus von Zola

Neben der insgesamt psychologisierenden Tendenz von Zola in Thérèse Raquin gibt es jedoch auch immer wieder explizite physische Gewalt. Diese wird sehr dezent eingesetzt, ohne dass sie dadurch ihr schockierendes Moment verlieren würde. Zola badet nicht in Gewaltdarstellungen, er schockiert vielmehr mit einem epigrammatisch kurzen Abschnitt, der -bis in die heutige Zeit- seine erschreckende Wirkung unmittelbar entfaltet. Zwei Szenen mögen hier als Beispiel dienen, ich zitiere daher ausführlich. Die erste Szene beschreibt, wie Laurent den Kater François tötet, weil er sich von ihm bedroht fühlt:

Un soir enfin, François regarda si fixement Laurent, que celui-ci, au comble de l’irritation, décida qu’il fallait en finir. Il ouvrit toute grande la fenêtre de la salle à manger, et vint prendre le chat par la peau du cou. Mme Raquin comprit ; deux grosses larmes coulèrent sur ses joues. Le chat se mit à jurer, à se roidir, en tâchant de se retourner pour mordre la main de Laurent. Mais celui-ci tint bon ; il lui fit faire deux ou trois tours, puis l’envoya de toute la force de son bras contre la grande muraille noire d’en face. François s’y aplatit, s’y cassa les reins, et retomba sur le vitrage du passage. Pendant toute la nuit, la misérable bête se traîna le long de la gouttière, l’échine brisée, en poussant des miaulements rauques. Cette nuit-là, Mme Raquin pleura François presque autant qu’elle avait pleuré Camille ; Thérèse eut une atroce crise de nerfs. Les plaintes du chat étaient sinistres, dans l’ombre, sous les fenêtres.

In der zweiten, kurzen und grausamen Szene, die ich willkürlich aus dem Roman herausgreife, stellt Thérèse fest, dass sie von Laurent schwanger ist, Laurent selbst weiß nichts davon. Sie provoziert ihn so sehr, dass er sie verprügelt und ihr in den Magen tritt, am folgenden Tag hat sie eine Fehlgeburt:

Cinq mois environ après son mariage, Thérèse eut une épouvante. Elle acquit la certitude qu’elle était enceinte. La pensée d’avoir un enfant de Laurent lui paraissait monstrueuse, sans qu’elle s’expliquât pourquoi. Elle avait vaguement peur d’accoucher d’un noyé. Il lui semblait sentir dans ses entrailles le froid d’un cadavre dissous et amolli. À tout prix, elle voulut débarrasser son sein de cet enfant qui la glaçait et qu’elle ne pouvait porter davantage. Elle ne dit rien à son mari, et, un jour, après l’avoir cruellement provoqué, comme il levait le pied contre elle, elle présenta le ventre. Elle se laissa frapper ainsi à en mourir. Le lendemain, elle faisait une fausse couche.

Der Stil von Zolas Thérèse Raquin ist also vornehmlich der eines psychologisierenden Romans, der die Grausamkeit der erzählten Welt daher hauptsächlich in den Bewusstseinsprozessen der Figuren darstellt. Wo die Erzählung das Bewusstsein der drei Hauptfiguren verlässt, hält sich der Roman so kurz wie möglich, um die Grausamkeit auf den Punkt zu bringen. Das unterstreicht, dass es Zola in Thérèse Raquin um die Darstellung einer inneren Grausamkeit geht, der Schuld, die die beiden Figuren auf sich geladen haben und die Unfähigkeit, diese Schuld loszuwerden. Selbst die kurzen Schock-Szenen reichen nur schwerlich an die Grausamkeit heran, die das innere Gefühlsleben von Thérèse und Laurent ausmacht.

[Fortsetzung der Interpretation im dritten und letzten Post: Der physiognomische Diskurs in Thérèse Raquin]

Quellennachweise

  1. Émile Zola„, via Wikimedia [Lizenz: Public Domain, because copyright has expired].
  2. Plaque commemorating the birthplace of Émile Zola (1840-1902) at No. 10 Rue Saint-Joseph, Paris 2e„, by Wikimedia Commons / Mu [Lizenz: CC BY-SA 3.0].

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