Auf der Suche nach Sinn: Tom McCarthys Roman SATIN ISLAND (2015)

Tom McCarthy: Satin Island (Cover)„Me? Call me U.“ Wenn Literaturwissenschaftler Romane schreiben, darf man in der Regel einen großen Anspielungsreichtum erwarten, unzählige Zitate, so wie die Selbstbezeichnung des Ich-Erzählers in Tom McCarthys neuem Roman, Satin Island, der es vorige Woche auf die Longlist des Man Booker Preises 2015 schaffte. „Call me U“ erinnert natürlich an Herman Melvilles Moby Dick, dessen Erzähler sich dem Leser mit den Worten „Call me Ishmael“ vorstellt. Die Referenz in McCarthys Roman ist mehr als bloße Spielerei, sie signalisiert die Unzuverlässigkeit des Erzählens und so ist der Leser von Satin Island gleich zu Beginn gewarnt, dass das Folgende mit einer gehörigen Portion Skepsis zu lesen ist. Was aber ist es, was wir dort lesen? Eine Sinnsuche. Eine Sinnsuche von U., die gleichzeitig zur Sinnsuche des Lesenden wird.

Anthropologen bei der Arbeit: Sinnsuche in Satin Island

U., ein promovierter Anthropologe, sucht den Sinn in allem: In Berichterstattungen über Unfälle bei Fallschirmspringern, in Ölverpestungen im Meer, in den Erzählungen von G8-Protestierenden, im Ventilationssystem seines Büros, in Flughäfen, in der Geschichte der Jeanshose, in der Verteilung von Starbucks-Filialen und so weiter und so fort: „An anthropologist’s not interested in singularities, but in generics“, lässt U. uns wissen. Um die Strukturen zu erkennen muss U. aber andauernd die „singularities“, die Einzelfälle, befragen auf ihre Bedeutung, auf ihren Sinn, den offen zu Tage liegenden sowie den geheimen und versteckten.

Weshalb der Ich-Erzähler von Satin Island so fixiert ist auf das Generische im Partikularen wird aus U.s Bericht nicht eindeutig ersichtlich. Einerseits arbeitet er für eine große Beratungsfirma als Firmenanthropologe, der, wie er sagt, dem Kunden Narrative verkauft. Andererseits hat sein charismatischer und enthusiastischer Chef namens Peyman ihm den Auftrag erteilt, den Großen Bericht zu schreiben, The Great Report. Welchen Inhalts und welcher Form dieser Große Bericht sein soll, das hat Peyman weder spezifiziert, noch hat U. es verstanden. Seine Sinnsuche ist also bezogen auf den Großen Bericht, dem er sich manchmal, in epiphanischen Momenten, nahe wähnt, manchmal in Momenten existenzieller Verzweiflung meilenweit entfernt fühlt.

Ein Traum, der Traum von einer Insel namens Satin Island (etwa: Seideninsel), führt ihn einige Zeit auf eine vermeintlich heiße Spur, doch am Ende des Romans stellt sich auch dieser Traum als das heraus was er ist: ein Traum. Satin Island, so erfährt U., erscheint nichts anderes als ein unvollständig durch Bäume und Häuser hindurchschimmerndes Schild, dass in New York City die Staten Island Ferry ankündigt. Mit dieser fährt er einmal hin und zurück, ergibt sich an Bord seinen letzten Betrachtungen – und dann endet der Roman sehr abrupt und lässt den Leser im Unklaren über den Ausgang von U.s Sinnsuche.
Wobei es zu diesem Punkt klargeworden ist, dass der Große Bericht, ähnlich wie das alleserklärende Buch „Key to all Mythologies“ eines anderen fiktiven Forschers (in George Eliots Roman Middlemarch), nie zu Ende gebracht werden wird. Die Welt ist sinnlos, hinter ihr steht, mit Hans Blumenberg gesprochen, kein Mitteilungswillen. Der Sinnverlust, den wir erfahren haben, hat jedoch nicht zu einem Verlust unseres Sinnverlangens geführt: Noch immer befragen wir die Welt mit den alten Kategorien von Sinn und Bedeutung. Nur antwortet sie nicht mehr in der gleichen Weise wie sie beispielsweise noch einem Anthropologen wie Claude Lévi-Strauss, über den U. ständig reflektiert, geantwortet hat. Immerhin spekuliert U. auch, in einem seiner Anflüge von Verzweiflung, über die Möglichkeit, dass der Große Bericht gar nicht un-schreibbar sei, sondern vielmehr schon längst geschrieben worden sei: „Pondering these facts, a new spectre, an even more grotesque realization, presented itself to me: the truly terrifying thought wasn’t that the Great Report might be un-writable, but—quite the opposite—that it had already been written.“

Akademischer Lesespaß

Das macht McCarthys Satin Island letztlich zu einem sehr pessimistischen Roman, der insbesondere akademisch ausgebildeten Leserinnen und Lesern Vergnügen bereiten dürfte (und sei es nur das narzisstische Vergnügen, Großteile seiner eigenen akademischen Ausbildungsinhalte wiederzuerkennen). Erzählerisch hingegen hat der Roman seine Schwächen. Diese mögen kalkuliert sein, was aber nicht über den Umstand hinwegtäuscht, dass die Geschichte von U.s Sinnsuche letztlich keine Geschichte ist. Es gibt keine Entwicklung, keine Charakterisierung, keine problematischen Figurenkonstellationen, letztlich auch: keine Konflikte. Nicht, dass es die in jedem Roman geben müsste (ein Irrtum, dem Creative Writing-Anhänger häufig aufgesessen sind); aber eine konsequente Verweigerung dieser Elemente bereitet eben doch primär ein intellektuelles (und damit wieder: narzisstisches) Vergnügen. Leser des Romans erkennen in der radikalen Geste des Romans eine Verweigerung standardisierter Regeln und genießen ihre Kennerschaft literarischen Schreibens. Ästhetisch (bzw. narrativ) überzeugt ein Roman, der als große Verweigerung ästhetisch-narrativer Regeln angelegt ist, natürlich nur selten. McCarthys verwegen-schöne Prosa und der nüchtern-zynische Tonfall trösten nur teilweise über diesen Umstand hinweg. Nichtsdestotrotz gibt es witzige und unterhaltsame Passagen, die Satin Island zu einem lesenswerten Roman machen. Etwa, wenn U. erklärt, dass er seinen Kunden letztlich eine „Light-Version“ der Philosophien von Deleuze oder Badiou verkaufe:

To frame these—that is, to provide a framework for explaining to the client what these crease-types truly and profoundly meant—I stole a concept from the French philosopher Deleuze: for him le pli, or fold, describes the way we swallow the exterior world, invert it and then flip it back outwards again, and, in so doing, form our own identity. I took out all the revolutionary shit (Deleuze was a leftie); and I didn’t credit Deleuze, either. Big retail companies don’t want to hear about such characters. I did the same thing with another French philosopher, Badiou: I recycled his notion of a rip, a sudden temporal rupture, and applied it, naturally, to tears worn in jeans, which I presented as the birth-scars of their wearer’s singularity, testaments to the individual’s break with general history, to the successful institution of a personal time. I dropped the radical baggage from that, too (Badiou is virtually Maoist).

Auf die Man Booker Prize 2015 Longlist hat es dieser Roman, ein „Kopfkind“ des Autors, geschafft, jedoch ist zu bezweifeln, dass die Jury ihn auf die Shortlist übernehmen wird, oder gar, dass er den begehrten Preis gewinnen wird. Vermutlich bleibt McCarthy ein (nicht-mehr-ganz-so-geheimer) Geheimtipp für ein vorwiegend akademisch ausgebildetes Lesepublikum. Und das obwohl Satin Island sich über weite Strecken wie ein Abgesang auf die Universität liest (und damit entweder den Masochismus oder den Defätismus des heutigen Universitätsbetriebs bedient). Hier ein Beispiel:

In the fifties and sixties, people like me started conducting studies of corporations, presenting their findings back to the academy, for consecration as pure, unconditional knowledge. But, sometime in the seventies or eighties, all that changed: now anthropologists found themselves working for the corporation, not on it. So it was with me.

All das lässt Tom McCarthys Roman Satin Island als eine großangelegte Shaggy Dog-Story erscheinen. Und ehrlich wie jeder Erzähler einer solchen ist, lässt McCarthy den Vorgesetzten von U. das an einer Stelle auch selbst reflektieren: „Everything, as Peyman said, may be a fiction—but the Future is the biggest shaggy-dog story of all.“ Nicht nur die Zukunft, möchte man ergänzen, sondern auch die Gegenwart: Zumindest solange man Satin Island liest…

Tom McCarthy, Satin Island (Knopf 2015)

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