Zeit und Bewusstsein in Virginia Woolfs To the Lighthouse

Virginia Woolf, FotografieAm 14. Mai 1925 wird Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway im englischen Verlag Hogarth Press veröffentlicht sowie im US-amerikanischen Verlag Harcourt, Brace & Co., New York. Am selben Tag notiert Woolf in ihrem Tagebuch, sie wolle von ihren journalistischen Aufgaben Abstand nehmen, um sich für die nächste Zeit vollständig mit ihrem neuen Roman To the Lighthouse auseinandersetzen zu können.

This is going to be fairly short; to have father’s character done complete in it; and mother’s; and St. Ives; and childhood; and all the usual things I try to put in – life, death, etc. But the centre is father’s character, sitting in a boat, reciting We perished, each alone, while he crushes a dying mackerel. (Diary 76-77; May 14th 1925)

To the Lighthouse wurde letztlich doch nicht so kurz wie ursprünglich angedacht und die Arbeit am Roman sollte Woolf zwei volle Jahre beschäftigen. Vor allem das zweite Kapitel des Romans mit dem Titel „Time Passes“ verdient bei einer Lektüre besondere Aufmerksamkeit.

To the Lighthouse: Zeit und Bewusstsein

Woolfs spezifisches Interesse in To the Lighthouse war in erster Linie ein technisches: die Frage, wie sich „all the usual things“, also: das Alltagsleben ohne die Schwere des Wahnsinns, die Mrs Dalloway noch belastete, darstellen lässt. Das heißt: die Frage, wie man einen Roman schreibt, der „less spasmodic“ sei und „occupied with more interesting things than Mrs. D., and not complicated with all that desperate accompaniment of madness”? (November 23rd 1926; Diary 102). Ferner die Frage, wie Zeit an sich darzustellen sei, von der Woolf später schrieb, sie existiere gar nicht (Diary, July 20th, 1925). Woolfs Fokus in To the Lighthouse liegt stets auf der Intensität des Augenblicks (Diary, September 5th 1926).


1. Erzählzeit und erzählte Zeit in To the Lighthouse

Die Frage, die daraus resultiert muss also lauten: Wenn Zeit und Alltag die beiden zentralen Diskurse des Romans sind, wie sind sie dann miteinander verknüpft? Und in der Tat scheint es, als ob (ver)knüpfen (engl.: knitting) hier das richtige Stichwort ist… ((Zur Motivgeschichte des Knüpfens in der Literatur von Ovid über Shakespeare, über Charles Dickens bis hin zu Günter Grass – cf: Elsner Hunt, Irmgard: “Zwei glatt, zwei kraus: Revolutionäre (Un)Geduld und La duree. Stricken in der Literatur als Ausdruck bestimmter Seinsmodalitäten.” The German Quarterly, 67 (2) Spring 1994, S.235-249.)).

Die berühmten Szenen mit dem braunen Strumpf bringen das Vergehen der Zeit mit den Aktivitäten des Alltagslebens in Verbindung:

1.) In der ersten Szene nimmt Mrs Ramsay, die an einem Strumpf als Geschenk für den Sohn des Leuchtturmwärters arbeitet, am Bein ihres eigenen Sohnes Maß. Während dieses Maßnehmens, das wohl kaum mehr als ein paar Sekunden dauern dürfte, werden Mrs Ramsays Gedanken in einem Bewusstseinsstrom (stream of consciousness) dargestellt, der Elemente umfasst, die zu unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Situationen gehören – wie beispielsweise die lange und völlig eingeklammerte Episode mit Mr Bankes Telefonanruf (To the Lighthouse 54). Dadurch wird die Erzählzeit ausgedehnt, während die erzählte Zeit nur einige Sekunden dauert. In diesem Fall ist die innere Bewusstseinsbewegung (der Strom der Gedanken) dafür verantwortlich, dass die Darstellung einer kurzen und belanglosen Handlung im Roman mehrere Seiten umfasst. Diesen Vorgang nennt der Berliner Komparatist Eberhard Lämmert „zeitdehnendes Erzählen“ bzw. einfach: „Dehnung“ (Lämmert 1990: 84), eine Begrifflichkeit, die er von Günther Müller übernimmt, der diese Begriffe prägte.

virginia-woolf-to-the-lighthouse2.) Die zweite Szene spielt sich unmittelbar nach dem Abendessen ab. Mrs Ramsay sitzt ruhig und zufrieden mit ihrem Gatten zusammen und widmet sich wieder der Arbeit an dem braunen Strumpf. Mr Ramsay liest einen Roman von Sir Walter Scott. Dieses Kapitel ist nicht nur das letzte Kapitel des ersten Roman-Drittels „The Window“, sondern auch das letzte Kapitel des Romans, in dem Mrs Ramsay noch am Leben ist. Denn am Ende von II.3 erfährt der Leser in einem eingeklammerten kurzen Absatz, dass Mrs Ramsay eines Morgens gestorben ist (To the Lighthouse 131) ((Die ersten Worte, die Mrs Ramsay im Roman äußert, klingen sowohl in den ersten Worten der ersten Strumpf-Szene an, als auch in den allerletzten Worten der zweiten Strumpf-Szene. Zu Beginn von Kapitel 1 sagt sie: „Yes, of course, if it’s fine to-morrow.“ (To the Lighthouse 35). Zu Beginn der von Kapitel 5, der ersten Strumpf-Szene, sagt sie: „And even if it isn’t fine to-morrow.“ (To the Lighthouse 52). Ihre allerletzten Worte im Roman, am Ende von Kapitel 19, der zweiten Strumpf-Szene, lauten: „Yes, you were right. It’s going to be wet to-morrow.“ (To the Lighthouse 125). Diese Worte sind ein ganz buchstäblich zu betrachtender Ariadne-Faden durch „The Window“, der Faden, der alle diese Szene verbindet, d.h. verknüpft.))

Sobald sie ihre Arbeit an dem Strumpf wiederaufnimmt, wächst die Erzählzeit auf ein Maß an, das die erzählte Zeit erneut bei weitem überschreitet. Und nicht nur das: die Zeit selbst scheint förmlich einzufrieren:

[S]he twitched the stocking out, and all the fine gravings came drawn with steel instruments about her lips and forehead, and she grew still like a tree which has been tossing and quivering and now, when the breeze falls, settles, leaf by leaf, into quiet.  (To the Lighthouse 120)

2. Zeitmetaphorik in To the Lighthouse

Das Einfrieren und Erstarren wird durch das ganze Kapitel hindurch durch eine deutliche Baum-Metaphorik verstärkt. Wie ein Baum schlägt Mrs Ramsay Wurzeln; sie bewegt sich (körperlich) nicht in ihrem Sessel, während ihr Geist sich „from one branch to another“ (To the Lighthouse 121) schwingt, „climbing up those branches, this way and that,“ (To the Lighthouse 122), ganz so wie „the birds in the trees.“ (To the Lighthouse 123) Sogar die wenigen Gedichtverse, die ihr in Erinnerung kommen, erzählen ihr Geschichten von Bäumen: „[t]hat all the lives we ever lived / And all the lives to be, / Are full of trees and changing leaves[, / Luriana, Lurilee.]“ (To the Lighthouse 121) ((Das Einfrieren der Zeit bei gleichzeitiger Ausdehnung des Bewusstseinsstroms ist zuvor bereits von Robert Musil in der Erzählung „Die Vollendung der Liebe“ (1911) benutzt worden. Ob Woolf diese Erzählung gekannt hat, war nicht herauszufinden))

Die Verästelungen und Verzweigungen ihrer Gedanken bei gleichzeitigem Verwurzeltsein im Wohnzimmersessel ähneln ein wenig der Rhizom-Metapher von C.G. Jung. Jung benutzt explizit eine botanische Metaphorik, um Lebensprozesse zu beschreiben, die sich unter der Oberfläche abspielen und die ihm immer erschienen sind als „a plant that lives on its rhizome“ (Jung 1965). Während Mrs Ramsays Körper also pflanzenhaft und baumartig erscheint, d.h. ruhig, bewegungslos, beinahe versteinert, folgt ihr Bewusstsein den rhizomatischen Verästelungen ihrer Gedankenprozesse. Erst in Folge ihrer alltäglichen Arbeit, der Arbeit an dem Strumpf (und hier ist die Beziehung zwischen der textilen und textuellen Metapher kaum zufällig ((Cf. Greber, Erika. Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag, 2002, S.533ff.)) ) friert die Zeit um sie herum ein, während gleichzeitig ihr Bewusstsein losgebunden ist. In der Außenansicht erscheint Mrs Ramsay völlig erstarrt, während uns die Innenansicht (die interne Fokalisierung) die zahlreichen Bewegungen ihres Bewusstseins zeigt oder, wie Jung es ausdrücken würde, das unsichtbare Leben, „hidden in the rhizome […] What we see is blossom, which passes. The rhizome remains.“ (Ibid.)

godrevy-lighthouseDie Frage ist, warum Woolf derart komplizierte und komplexe narrative Techniken und einen derart schweren Symbolgebrauch zur Hilfe nimmt, bloß um zu erzählen, was ihren Figuren im Kopf umhergeht. Hier schafft vielleicht eine Passage aus einem gänzlich anderen Roman Klarheit – Thomas Manns Der Zauberberg (1924). Manns Zauberberg ist zusammen mit seinen Proustschen und Woolfschen Gegenstücken sicherlich der wichtigste deutschsprachige Roman über die Zeit – die vergehende Zeit und die Dauer (Bergsons durée). Thomas Mann sagt zu Beginn des siebten und letzten Kapitels in einer Episode mit dem Titel „Strandspaziergang“:

Die Erzählung hat zweierlei Zeit: ihre eigene erstens, die musikalisch-reale, die ihren Ablauf, ihre Erscheinung bedingt; zweitens aber die ihres Inhalts, die perspektivisch ist, und zwar in so verschiedenem Maße, dass die imaginäre Zeit der Erzählung fast, ja völlig mit ihrer musikalischen zusammenfallen, sich aber auch sternenweit von ihr entfernen kann. (Mann 741-42; meine Hervorhebungen, E.K.)

Bemerkenswert an diesem Zitat ist die Definition der erzählten Zeit, die nach Mann immer an eine bestimmte Perspektive gebunden ist. Narratologisch ausgedrückt bedeutet das, dass erzählte Zeit auf eine bestimmte Person fokalisiert sein muss (um Genettes Terminologie zu gebrauchen). Daraus folgt: je stärker man sich im Bewusstsein einer fokalisierten Person befindet, desto stärker wird die Zeit gedehnt. Es scheint, als habe Lily Briscoe recht, wenn sie Mrs Ramsay die Kraft zugesteht, die Zeit anhalten zu können: „Mrs Ramsay saying, ‚Life stand still here.‘; Mrs Ramsay making of the moment something permanent.“ (To the Lighthouse 157) Konsequenterweise verschwindet Mrs Ramsay auch im zweiten Teil des Romans – der den Titel „Time Passes“ trägt und der insgesamt eine starke Außenperspektive einnimmt. Keine Bäume finden sich hier, die „tossing and quivering“ (To the Lighthouse 120) sind, „[t]he nights now are full of wind and destruction.“ (To the Lighthouse 131)

Die bloße Abwesenheit von fokalisierten Personen bewirkt, dass der Zeitraum mehrerer Jahre (erzählter Zeit) zu wenigen Seiten kondensiert (Erzählzeit). Während sich eine Zeitdehnung in den variablen internen Fokalisierungen von „The Window“ beobachten lässt, umfasst das mehr oder weniger unfokalisierte „Time Passes“ ((Woolf schrieb „Time passes“ in weniger als einem Monat: am 30. April notierte sie in ihr Tagebuch: „finished the first part of To the Lighthouse, and today began the second“ (April 30th 1926; Diary 88), während sie am 25. Mai schrieb: „I have finished – sketchily I admit – the second part of To the Lighthouse […] A record.“ (May 25th 1926; Diary 89). Später, nach der Veröffentlichung des Romans, schreibt sie, dass verschiedene Leser den Roman nicht mochten und andere Leser sogar, so wie Roger Fry (cf. February 12th 1927; Diary 103-104) oder der Rezensent des The Times Lit. Sup., „Time passes“ ganz besonders nicht. Dies machte sie „moderately depressed“ und sie schrieb, sie sei „anxious about ‚Time Passes.‘ Think the whole thing may be pronounced soft, shallow, insipid, sentimental.“ (cf. May 5th 1927; Diary 106-107). Vielleicht ist es in Verbindung mit der verwurzelten Baum- und Pflanzenmetaphorik in „The Window“, dass sie deren Entwurzelung in „Time Passes“ als „shallow, insipid, sentimental“ empfindet?)) eine deutlich größere Zeitspanne („zeitraffendes Erzählen“; Lämmert 1990: 83).

All das wird ausgelöst durch die Alltagsarbeit des hochgradig symbolischen braunen Strumpfes. Der braune Strumpf dient als Rahmen für das Einfrieren der Zeit, in welchem der Bewusstseinsstrom fließen kann, rhizomatisch, in alle Richtungen, vor und zurück, mit wilden Verästelungen und seinen unterschiedlichsten Verzweigungen folgend. Der braune Strumpf ist nur eins der zahlreichen Elemente in To the Lighthouse mit einer solchen Wirkung: Lilys Malen ist ein weiteres, oder Mrs McNabs Gartenarbeit – beides von großer Alltäglichkeit, ohne das leiseste Zeichen des Wahnsinns, der in Woolfs Augen Mrs Dalloway so belastet hatte. Beide Alltagsszenen lösen eine Dehnung der Zeit aus. In dem Raum der sich durch diese Dehnung öffnet kann der Strom des Bewusstseins frei fließen.


Was in „Time Passes“ passiert sind also, um mit Thomas Mann zu sprechen, „vewirrende Bedingungen“ (Mann 2004: 744), wie beispielsweise der schlafwandelnde Mr Ramsay im dritten Kapitel, der verwirrt umherläuft und die arme nach seiner verstorbenen Frau ausstreckt. „Es scheint demnach, daß unter verwirrenden Bedingungen die menschliche Hilflosigkeit eher geneigt ist, die Zeit in starker Verkürzung zu erleben, als sie zu überschätzen.“ (Mann 2004: 744) Aus genau diesem Grund muss die Zeit in der kurzen Phase der Verdunkelung (bei der das sich drehende Leuchtfeuer aus dem Leuchtturm abwechselnd Licht und Schatten auf das Haus wirft) in Form einer Verkürzung erzählt werden. Das bedeutet: die erzählte Zeit übersteigt die Erzählzeit. Wenn die „times of bewilderment […] all the usual things“ des Alltagslebens suspendieren (May 14th 1925; Diary 76-77), vergeht die Zeit konsequenterweise sehr viel schneller und unterbricht das Fließen des Bewusstseinsstroms.

3. Bibliographie

4. Quellennachweise

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