William Shakespeare, The Tempest, Interpretation

Shakespeare, The Tempest, Titlepage, First FolioGanz banal ließe sich sagen: Sind am Ende die Helden des Stückes tot, dann war’s ne Tragödie; heiraten die Helden am Ende, dann war’s ne Komödie. Nun, so gesehen müsste man Shakespeares The Tempest als Komödie klassifizieren: niemand ist am Ende tot, stattdessen gibt’s eine Hochzeit. Für die Klassifizierung des Sturms als Komödie spricht auch, dass diese Gattungsbezeichnung in der ersten gedruckten Fassung des Stückes, der Folio-Ausgabe von 1623 (Shakespeare war zu diesem Zeitpunkt schon gut sieben Jahre tot), genannt wird. Allerdings merkte schon Harold Bloom an, dass er keiner Aufführung des Sturms beigewohnt hätte, in der das Publikum herzhaft gelacht hätte. Häufig findet man daher die Bezeichnung „romance“ für das Stück. Eine Bezeichnung, die einiges für sich hat, gegen die allerdings auch einiges spricht. Wie nähert man sich also diesem berühmten Shakespeare-Drama – und was die Abiturient/innen betreffen dürfte: was kann man in einer Klausur zu Shakespeares The Tempest Vernünftiges über dieses schwierige Drama sagen?!


1. Shakespeares Sturm: Tragödie oder Komödie?

„Romances“ definiert der kanadische Literaturkritiker Northrop Frye in seinem einflussreichen Buch Anatomy of Criticism von 1957 folgendermaßen:

The hero of romance moves in a world in which the ordinary laws of nature are slightly suspended: prodigies of courage and endurance, unnatural to us, are natural to him, and enchanted weapons, talking animals, terrifying ogres and witches, and talismans of miraculous power violate no rule of probability… Romance divides into two main forms: a secular form dealing with chivalry and knight-errantry, and a religious form devoted to legends of saints. Both lean heavily on miraculous violations of natural law for their interest as stories“ (Northrop Frye, Anatomy of Criticism, 33-34).

Und hier stößt man sofort auf diverse Probleme, wenn man versucht, Shakespeares The Tempest als „romance“ zu klassifizeren. Nicht allein ist es gar nicht so einfach, den „Helden“ des Dramas auszumachen (in der Forschungsliteratur sowie auf der Bühne, in den Filmen oder literarischen, künstlerischen und ähnlichen Bearbeitungen (näher hierzu: siehe Punkt 3) gibt es für diese Rolle mehrere Kandidaten, deren häufigste Caliban, Prospero, Ariel, Miranda oder Ferdinand sind). Egal welchen dieser Kandidaten man als Helden ansieht: keinem geht es um „chivalry and knight-errantry“ noch stellen sie symbolisch die „legends of saints“ dar.

Caliban

Caliban in: William Hogarth's "A Scene from The Tempest" (1735)

Kurzum: mit Shakespeares The Tempest haben wir es vor allem mit einem Drama zu tun, dass seinem Leser/seinem Publikum Widerstände entgegenstellt, deren auffälligster vor allem der Widerstand gegen eine eindeutige Klassifizierung, sowie gegen die eindeutige Identifizierung des Helden/der Heldin ist.

Ein weiterer Widerstand, den das Drama bereit hält, zeigt sich deutlich sobald man versucht, die Handlung von The Tempest zusammenzufassen. Ein derartiger Versuch könnte in etwa so aussehen:

  • Vorgeschichte: Prospero, ehemals rechtmäßiger Herzog von Mailand, ist von seinem Bruder Antonio entmachtet und auf offenem Meer ausgesetzt worden; mit sich im Boot hat er nur seine Tochter Miranda und seine Bücher („Prospero’s Books“, wie auch Peter Greenaways Verfilmung heißt). Sie retten sich auf eine Insel.
  • 1. Akt: Jahre später treibt das Schiff seiner Feinde in Inselnähe auf dem Wasser umher, was Prospero für seinen Racheplan nutzt: er zaubert die Illusion eines Sturmes herbei, so dass die ganze Schiffsbesatzung schiffbrüchig an Land gelangt.“ Bis hierhin (Vorgeschichte und 1. Akt) stellt die Zusammenfassung der Handlung kein Problem dar. Schwierig wird es ab dem…
  • 2. Akt bis zum 5. Akt: Die weitere Zusammenfassung könnte in etwa so aussehen: Mittels seiner Magie und Geister verwickelt er alle Schiffbrüchigen in weitere Zauberspiele und Illusionen, die am Ende dazu führen, dass Prospero seinem Bruder verzeiht und wieder zum rechtmäßigen Herzog Mailands wird. Seine Tochter heiratet Ferdinand. Ende.
    Das Problem hierbei ist, dass der Teil „mittels seiner Magie und Geister“ vom Umfang her den größten Anteil im Drama hat. Da wimmelt es nur so von geisterhaften Gestalten, göttlichen Erscheinungen, Hexen und halbmenschlichen Golemfiguren. Kurz: ein großer Teil des Dramas scheint ein bloßes Kuriositätenkabinett zu sein, statt ernstzunehmende „romance“, und: das Drama nimmt im Gesamtwerk von Shakespeare mit Sicherheit eine Art Sonderstellung ein.

Viele Textforscher gehen davon aus, dass The Tempest das letzte Stück Shakespeares ist, dass dieser alleine fertig stellte. Ferner sieht eine klassisch gewordene Interpretation vor, dass Prospero mit Shakespeare identisch ist, der am Ende seines Lebens (Shakespeare starb tatsächlich 5 Jahre nach der einzigen nachweisbaren Aufführung des Stückes) seinen Zauberstab zerbricht und seine Bücher begräbt, nachdem er vorher seine Magie einsetzte, um allerlei Illusionen zu schaffen. Auf Grund der problematischen biographischen Überlieferung ist diese Interpretation jedoch mit Vorsicht zu genießen.

Das Problem der William Shakespeare-Urheberschaft ist ein Problem, das bis heute Historiker und Literaturwissenschaftler gleichermaßen beschäftigt. Die Frage, wer eigentlich der Autor der Dramen ist, die wir Shakespeare zuschreiben. Die Tatsache, dass ein englischer Provinzler mit höchstens durchschnittlichem Bildungsstandard den möglicherweise wichtigsten Beitrag zur Weltliteratur geleistet haben soll, kann von vielen Forschern nicht ohne Weiteres akzeptiert werden. Daher gibt es eine Vielzahl möglicher Theorien zur Urheberschaft von Shakespeares Dramen: diese seien gar nicht von einer Einzelperson, sondern von einem Autorenkollektiv verfasst worden – so eine Theorie; oder der eigentliche Autor sei der Earl of Oxford, der mit diesen Stücken jedoch anonym bleiben wollte. Christopher Marlowe und Francis Bacon werden ebenfalls häufig als Autoren der Dramen ins Spiel gebracht. Die beiden Lager unterteilt man in der Forschung daher in sogenannte Stratfordianer und Anti-Stratfordianer. Wer glaubt, dass der Mann aus Stratford auch der Autor der Werke ist, ist somit ein Stratfordianer. Diejenigen, die die Autorschaft des Mannes aus Stratford anzweifeln sind folglich die Anti-Stratfordianer.

2. Caliban vs Prospero, Drama der Ambivalenzen

William Shakespeare (1564-1616)

William Shakespeare (1564-1616)

Wie schon in der Einleitung beschrieben ist die Frage nach dem eigentlichen Helden des Sturms gar nicht so leicht zu beantworten; schon gar nicht auf Grundlage der Zuschauersympathien in The Tempest. Prospero, der unrechtmäßig aus seinem Reich vertrieben wurde, genießt zunächst die Sympathien des Publikums. Doch dann tritt Caliban auf und wir sehen nicht nur, dass dieser von Prospero sklaventreiberisch herumkommandiert wird, sondern erfahren auch von ihm, dass die Insel einst ihm und seiner Mutter, der Hexe Sycorax, gehörte, bis Prospero kam und sie sich unrechtmäßig aneignete. Assoziationen zur englischen Kolonialherrschaft drängen sich zwangsläufig auf (und sind auch immer wieder gezielt inszeniert worden). Doch die Bildungsmission Prosperos hat nur negative Effekte gezeitigt: Caliban, der nun die Sprache erlernt hat, hat sie nach eigener Auskunft nur zum Zweck des Fluchens erlernt.

Dann wiederum erfahren wir jedoch, dass Caliban versucht hat, Prosperos Tochter Miranda zu vergewaltigen…. Die Sympathien sind keineswegs eindeutig verteilt. Frank Günther, Übersetzer des Dramas, sieht darin sogar einen der wesentlichen Charakterzüge des Dramas, das er einen „uferlosen Reigen der unaufgelösten Ambivalenzen“ nennt (S. 172). In The Tempest erhält jeder Entwurf, ob Lebensentwurf, Herrschaftsentwurf, ethischer Entwurf, seinen Gegenentwurf. Nicht selten sogar in ein und derselben Szene. Das beginnt schon bei der physischen Beschaffenheit der Insel, über die sich die Gestrandeten nicht einig werden können:

ADRIAN: Uninhabitable, and almost inaccessible, –
SEBASTIAN: Yet, –
ADRIAN: Yet, –
ANTONIO: He could not miss’t.
ADRIAN: It must needs be of subtle, tender and delicate temperance.
ANTONIO: Temperance was a delicate wench.
SEBASTIAN: Ay, and a subtle; as he most learnedly deliver’d.
ADRIAN: The air breathes upon us here most sweetly.
SEBASTIAN: As is it had lungs, and rotten ones.
ANTONIO: Or as ‚twere perfum’d by a fen.
GONZALO: Here is everything advantageous to life.
ANTONIO: True; save means to live.
SEBASTIAN: Of that there’s none, or little.
GONZALO: How lush and lusty the grass looks! how green!
ANTONIO: The ground, indeed, is tawny.
SEBASTIAN: With an eye of green in ‚t.
ANTONIO: He misses not much.
SEBASTIAN: No; he doth but mistake the truth totally.
(II,i, 40-58)

„Mistake the truth totally“ kann als ein zentrales Thema des Dramas betrachtet werden. Was die Wahrheit ist, ist an Hand der Informationen, die das Stück gibt, nicht zu entscheiden. Keine Wahrheit ohne Unwahrheit (epistemisch), keine staatliche Gerechtigkeit ohne herrschaftliche Unterdrückung (politisch), kein Gut ohne Böse (ethisch), kein menschlich ohne unmenschlich (anthropologisch).


3. The Tempest in der Musik und als Übersetzung:

Bekannerweise trägt Beethovens Klaviersonate Nr. 17 in d-Moll op. 31 Nr. 2 den Titel „Der Sturm“, auch wenn Beethoven diesen Titel vermutlich nicht selbst für seine Sonate gewählt hat. Der Name geht wohl eher auf seinen Biographen Anton Schindler zurück, der behauptete, Beethoven habe die Sonate im Anschluss an eine Lektüre von Shakespeares Drama Der Sturm komponiert.

Beethoven, Der Sturm nach Shakespeare The TempestDass Beethoven das Drama gekannt hat, ist hingegen sehr wahrscheinlich. Vermutlich war es ihm in der Übersetzung Christoph Martin Wielands aus dem Jahr 1761 (oder: 1763) bekannt – übrigens eine der ersten deutschen Shakespeare-Übersetzungen überhaupt; ebenfalls möglich, dass Beethoven die Übersetzung von August Wilhelm Schlegel kannte, die im dritten Band der gesammelten Werke Shakespeares 1798 bei Unger erschien.

Ob Beethoven beim Komponieren tatsächlich Shakespeares Drama im Kopf hatte oder nicht, bleibt offen. Jedoch ist die Assoziation der Sonate mit The Tempest äußerst bemerkenswert. Denn tatsächlich finden sich in der Sonate Motive aus dem Drama musikalisch umgesetzt. Es ist vor allem der Sturm selbst, der den ganzen ersten Satz durchzieht, das schwankende Schiff darauf ist deutlich erkennbar, im ersten und im letzten Satz, die beide nervös und unruhig bewegt sind. In dem kleinen Notenausschnitt rechts kann man selbst am Notenbild das schwankende Schiff deutlich erkennen. Beethovens Sonate ist jedenfalls ebensosehr Teil eines musikliterarischen Kanons, wie Shakespeares The Tempest dem literarischen Kanon angehört.

4. Literatur:

5. Quellennachweise:

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