Theodor Storm: Immensee – Interpretation

Die Handlungsarmut von Theodor Storms 1849 verfasster Novelle Immensee ist derart stark, dass die Lektüre in der Schule häufig fragendes Schulterzucken auslöst: „Da passiert ja gar nichts!“ In der Tat passiert in der Novelle nicht viel, weshalb sich eine Inhaltsangabe von Theodor Storms Immensee in wenige Sätze zusammenfassen lässt. Doch geht es dann an die Interpretation des kurzen Textes, merkt man schnell, wie komplex die Novelle ist, mit welchen zahlreichen Stilmitteln sie komponiert ist und wie schwierig es ist, einen klaren Sinn herauszudestillieren. Da ferner der Text zu einer der klassischen Schullektüren zählt und Schülerinnen und Schüler bis heute mit Klausurfragen zu Immensee von Theodor Storm rechnen müssen, haben wir hier eine Interpretation vorgeschlagen, die, wenngleich nur eine von vielen möglichen Interpretationen, den Einstieg in die Novelle erleichtern sollte. Sie orientiert sich sehr stark an einem zentralen Merkmal des Textes: Seiner Rahmung und Symmetrik.

Storm, Immensee: Inhaltsangabe


Zunächst jedoch eine kurze Inhaltsangabe von Storms Immensee, bevor wir zur Erläuterung kommen. Wie bereits erwähnt, passiert nicht viel, so dass die Zusammenfassung schnell erledigt ist. Der Text ist in 10 Abschnitte eingeteilt:

  1. Der Alte
  2. Die Kinder
  3. Im Walde
  4. Da stand das Kind am Wege
  5. Daheim
  6. Ein Brief
  7. Immensee
  8. Meine Mutter hat’s gewollt
  9. Elisabeth
  10. Der Alte

Sogleich fällt ins Auge, dass der erste und der letzte Abschnitt die gleiche Überschrift tragen. Nach erster Lektüre der Novelle erklärt sich auch schnell, weshalb: Abschnitt 1 und 10 bilden die Rahmenerzählung: Ein alter Mann kommt nach einem Spaziergang nach hause, geht die Treppe hoch in sein Zimmer, setzt sich in einen Sessel zwischen einem Bücherregal und einer Reihe von Bildern. Der Mond fällt durchs Fenster und beleuchtet das Bild eines jungen Mädchens: „»Elisabeth!« sagte der Alte leise; und wie er das Wort gesprochen, war die Zeit verwandelt – er war in seiner Jugend.“ Die Abschnitte 2-9 erzählen von der Jugend des Mannes und speziell von seiner Beziehung zu dem Mädchen Elisabeth. Im 10. und letzten Abschnitt, ebenfalls mit „Der Alte“ überschrieben, kehrt die Novelle wieder zu dem Alten zurück, der immer noch in seinem Ledersessel sitzt. Seine Wirtin kommt herein, um ihm Licht zu bringen und unterbricht ihn so in seinen Träumereien und Kindheitserinnerungen, so dass sich der Alte ein Buch nimmt und wieder an seine Arbeit macht. Damit endet die Novelle und die Rahmenerzählung.

Illustration zu Storms Immensee: Elisabeth und Reinhard

Die Teile 2-9 machen also den eigentlichen Kern der Novelle Immensee aus. Sie erzählen (in Teil 2) von den Kindern Reinhard (so heißt der Alte) und Elisabeth, die gerne und ununterbrochen miteinander spielen. Teil 3 erzählt von einem Waldspaziergang der beiden als Jugendliche („sieben Jahre später“), bei dem diese sich auf die Suche nach Erbeeren begeben und im Wald verlaufen; nur mit Mühe – und ohne Erdbeeren – finden sie den Weg zurück. Teil 4 springt erneut ein ganzes Stück in der Zeit nach vorn. Reinhard ist inzwischen Student geworden und von zuhause weggezogen. Er hat Elisabeth versprochen ihr, wie er es früher immer getan hatte, Märchen aufzuschreiben und zu schicken, sein Wort jedoch nicht gehalten. Stattdessen treibt er sich mit anderen Studenten in Wirtshäusern umher und flirtet mit einem jungen Zigeunermädchen. Es ist Weihnachtsabend und er findet zu Hause ein Paket von Elisabeth, in dem sie ihm Kuchen schickt, sowie einen Brief, in dem sie ihn ausschimpft, dass er sich nicht mehr bei ihr gemeldet habe. Nach der Lektüre spricht er leise ein Gedicht vor sich hin, dessen dritter Vers den Titel dieses vierten Abschnitts bildet.

In Abschnitt 5 springt die Erzählung um einige Monate vor; es ist Ostern und Reinhard kehrt nach Hause zurück (daher der Name dieses Abschnitts: „Daheim“). Doch Elisabeth und er haben sich entfremdet. Als Reinhard wieder zurück an die Universität fahren muss, verspricht er ihr, dass er in zwei Jahren, wenn er das nächste Mal nach Hause kommen werde, ihr ein Geheimnis mitteilen würde und sie so lange auf ihn warten möchte. In Abschnitt 6 springt die Erzählung um fast genau diese zwei Jahre nach vorne. Reinhard erhält einen Brief von Elisabeths Mutter, in dem diese ihm mitteilt, dass Elisabeth einen alten Schulkameraden von Reinhard, Erich mit Namen, geheiratet habe und nun am Immensee wohne. An diesen Immensee reist Reinhard im gleichnamigen 7. Abschnitt, der wieder viele Jahre später spielt als der vorherige. Während ihn sein Freund Erich mit alter Frische begrüßt ist Elisabeth ein wenig reserviert. Auf einem verregneten Spaziergang meint Reinhard Elisabeth zwischen den Bäumen zu erkennen, doch als er sich ihr nähern will, läuft die Gestalt fort. Der 8. Abschnitt trägt, wie schon der 4. Abschnitt als Titel einen Vers aus einem Gedicht, das Reinhard geschrieben hat und das von einer alten Jugendliebe handelt, die auf Wünsche der Mutter hin zu Gunsten eines anderen Mannes aufgegeben wurde. Als Reinhard das Gedicht vorliest, merkt er, wie Elisabeth innerlich aufgewühlt ist. Reinhard geht hinaus an den Immensee, in dessen Mitte er eine Wasserlilie erblickt. Er will zu ihr schwimmen, doch als er sie fast erreicht hat, überkommt ihn plötzlich die Angst und er schwimmt zurück. Der 9. Abschnitt („Elisabeth“) erzählt, wie am Folgetag Elisabeth und Reinhard alleine am See spazieren gehen. Er fragt sie, ob sie mit ihm (wie in Abschnitt 3) noch einmal Erdbeeren pflücken wolle, doch sie antwortet: „Es ist keine Erdbeerenzeit.“ Zurück am Haus treffen die beiden auf ein bettelndes Zigeunermädchen (es handelt sich um das Mädchen aus Abschnitt 4), dem Elisabeth all ihr Geld schenkt. Am nächsten Tag verabschiedet sich Reinhard von Elisabeth und macht sich auf den Weg: „Er sah nicht rückwärts.“

Interpretation von Storms Immensee

Nach dieser kurzen Inhaltsangabe stellt sich die Frage, was die Novelle bedeutet. Wie bereits gesagt, lassen sich viele verschiedene Interpretationen erstellen. Hier ist eine, die auf die Struktur der Novelle abzielt, die von zahllosen Doppelungen bestimmt ist.

Titelbild einer Immensee-Verfilmung aus dem Jahr 1943 von Veit Harlan, einem Regisseur aus der NS-Zeit

Die offensichtlichste Doppelung ist, wie bereits erwähnt, die Abschnittsüberschrift 1 und 10: Erster und letzter Abschnitt tragen den gleichen Titel („Der Alte“) und rahmen so die Geschichte ein; es handelt sich um eine, für Theodor Storm überaus typische, Rahmenerzählung. Aber auch auf inhaltlicher Ebene gibt es Elemente, die doppelt vorkommen. So gehen die beiden Jugendlichen in Abschn. 3 Erdbeeren pflücken (wenn auch erfolglos) und Reinhard schlägt Elisabeth in Abschn. 9 vor, Erdbeeren pflücken zu gehen, was diese jedoch mit dem Hinweis „Es ist keine Erdbeerenzeit“ ablehnt. Auch das Zigeunermädchen taucht zwei Mal in der Erzählung auf; in Abschn. 4 singt es für Reinhard und seine studentischen Freunde, in Abschn. 9 bettelt es vor Elisabeths Haus am Immensee. Beide Male singt sie dasselbe Lied, das mit den Versen „Sterben, ach sterben, soll ich allein!“ endet. Auch wortwörtliche Wiederholungen gibt es zahllose in der Novelle. So heißt es bei Elisabeths ersten Worten in der Erzählung: „‚Reinhard‘, rief sie.“ (Abschn. 2) und zu Beginn ihrer letzten Begegnung am Immensee ebenfalls wieder: „‚Reinhard!‘ rief sie.“ (Abschn. 7). Selbst innerhalb einzelner Abschnitte wiederholen sich bestimmte Motive, wie beispielsweise im 9. Abschnitt, wo Elisabeth zunächst bei einer Bootsfahrt ihre Hand ins Wasser fallen lässt und wenige Zeilen später, beim endgültigen Abschied der beiden, ihre „Hand sinken ließ“.


Was bedeuten also diese zahlreichen, auffälligen Wiederholungen. Nun, zunächst einmal, dass es in Immensee von Theodor Storm genau darum geht: Um Wiederholungen, bzw. um versuchte Wiederholungen. Denn die Rahmenerzählung berichtet ja davon, dass ein alter Mann seine Jugend wieder-erinnert, d.h. wiederholt. Dass jede Erinnerung an etwas Vergangenes immer eine leicht paradoxe Zeitsituation ist (im Erinnern wird das Vergangene gegenwärtig gemacht) spiegelt sich auch in den teilweise sehr komplexen Zeitsituationen. Elisabeths Aussage in Abschn. 9 „Es ist keine Erdbeerenzeit“ kann also durchaus auch in einem Doppelsinn begriffen werden: Es ist auch für den alten Mann keine Erdbeerenzeit (Zeit der unbekümmerten Jugend), der sich an diese Aussage von Elisabeth erinnert. Die oben genannten Wiederholungen sind bei ihrer Wiederholung also immer als defizitär markiert: Das Zigeunermädchen ist plötzlich nicht mehr jung und schön, sondern erscheint „in Lumpen gehüllt“ und „mit verirrten Augen“; während beim ersten „Reinhard, rief sie“ Elisabeth hinzufügt „wir haben frei, frei!“ fügt sie beim zweiten Mal, also bei der Wiederholung enttäuscht hinzu: „Wir haben uns lange nicht mehr gesehen.“ Und auch die Rahmenerzählung selbst erlebt auf ähnliche Art einen stillen Wandel: Während Abschn. 1 vom „Abendsonnendufte“ erfüllt ist und schließlich vom milden Mondlicht, ist die gleiche Szenerie in Abschn. 10 auf einmal „dunkel“ und „der Mond schien nicht mehr“. Die bestimmende Farbe ist auf einmal schwarz geworden: „schwarze Dämmerung“, der „dunkle See“, das „schwarze Gewässer“, während in Abschn. 1 eine ganze Farbenpracht die Szenerie erleuchtete: „goldene Knöpfe“, „grüner Vorhang“, „grüne Decke“, „rote Sammetkissen“, „heller Streif“. Was für eine Veränderung. Und von eben dieser handelt die Novelle Immensee.

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