Neues Geld und alter Adel: Henry James, Die Europäer (Neuübersetzung von Andrea Ott)

henry-james-die-europaeer-neuuebersetzung-2015„Nichts ist mein letztes Wort über irgendetwas – ich bin übersubtil und analytisch.“ So schreibt Henry James in einem Brief vom März 1879 angesichts seines Romans The Europeans (dt.: Die Europäer). Sein älterer Bruder, der Philosoph und Psychologe William James, empfand den Roman keineswegs als das Ergebnis übersubtiler Analysen, sondern verdammte ihn in Bausch und Bogen als „dünn und leer“ (thin and empty). Angesichts des 100. Todestages von Henry James ist der Roman in einer Neuübersetzung von Andrea Ott bei Manesse erschienen, so dass deutsche Leserinnen und Leser sich ein eigenes Bild davon machen können, ob er nun subtil oder dünn, ob analytisch oder leer ist.

Im Dezember 2015 stellte Felicitas von Lovenberg in der Fernsehsendung lesenswert eben jenen Roman von Henry James vor (die ganze Sendung lässt sich hier sehen, der Bericht über James beginnt ab 20“14). Darin fasst sie den Grundkonflikt in wenigen Worten zusammen:

Es geht, wie eigentlich immer bei Henry James, um den Gegensatz zwischen dem kultivierten, vielleicht behäbigen, psychologisch komplizierten alten Europa und der neuen Welt Amerika, wo es puritanisch, stringent, modern, aber möglicherweise auch ein bisschen langweiliger zugeht.

Die beiden titelgebenden Europäer, das Geschwisterpaar mit den sprechenden Namen Felix und Eugenia (der Glückliche und die Wohlgeborene), sind zu Beginn des Romans im matschig-grauen Boston angekommen, das sich seinen Besuchern selbst im Monat Mai noch von einem „nebligen Schneetreiben“ eingehüllt präsentiert. Die düstere Ausgangsstimmung erinnert tatsächlich ein wenig an den Beginn von Charles Dickens‘ berühmten Roman Bleak House, jedoch mit einem signifikanten Unterschied: Gerade als das trostlose Nebelwetter beginnt, Eugenia aufs Gemüt zu schlagen und sie ihre Reise in die USA bereuen zu lassen, klärt der Himmel auf:

Er [Felix] beugte sich vor und küsste seine Schwester. «Schau!», fuhr er fort. «Noch während meiner Worte hat sich der Himmel golden verfärbt, ein gutes Omen! Es wird noch ein schöner Tag.» Und tatsächlich, innerhalb von fünf Minuten hatte sich das Wetter geändert. Die Sonne brach durch die Schneewolken und sprang ins Zimmer der Baronin. «Bonté divine», rief die Dame, «was für ein Land!»

Das Amerika der 1840er Jahre enthüllt sich den Europäern nach kurzer Verdüsterung als pastorales Idyll, als unberührte Natur und paradiesischer Garten, dessen Äpfel nur darauf warten, von ihnen gepflückt zu werden. Der Roman spricht es niemals deutlich aus, aber es wird schnell klar, dass Eugenia, die Baronin von Münster, aus finanziellen Erwägungen in die Neue Welt gereist ist. Sie lebt in sogenannter morganatischer Ehe, und die Familie ihres Gatten wünscht diese eilig aufzulösen. Daher besinnt sie sich ihrer amerikanischen Cousins and Cousinen und reist nach Neuengland, begleitet von ihrem Bruder Felix, einem Amateur-Maler und chronisch gut gelaunten jungen Mann, der entschlossen scheint, die Welt ausschließlich von ihrer leichten Seite zu betrachten.

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Henry James im Jahr 1913

In Massachusetts angekommen, treffen die weltoffenen Europäer auf ihre wohlhabenden puritanischen Verwandten. Als Salonkomödie im fast schon Oscar Wilde’schen Stil kommt es, so viel sei verraten, am Romanende zu gleich mehreren Hochzeiten, vier an der Zahl. Wobei nur eine dieser vier Eheschließungen Alte und Neue Welt verbinden wird – ob zum Besseren oder Schlechteren, darüber gibt der Roman keine Auskunft mehr. Auffällig ist, dass die Begehrlichkeiten, die der amerikanische Dollar zu Beginn bei den Europäern weckt, im Laufe der Romanhandlung mehr und mehr an Bedeutung verliert. Der Kitt, der die puritanisch-schwere und die aufgeklärt-leichtlebige Gesinnung der Figuren zusammenhält ist kultureller, nicht ökonomischer Natur. Als dialektische unterliegen ihre Verbindungen keiner Gewinnmaximierungslogik.

James‘ Erzähler lugt hinter der Darstellung der Ereignisse nur gelegentlich vor, lupft kurz den Hut, um sich anschließend wieder hinter der Handlung zu verbergen, als deren „Chronist“ er sich selbst bezeichnet. Hier ein Beispiel:

Dieses wohlige Gefühl, allein zu sein, von dem ich bereits gesprochen habe, das Haus für sich zu haben, pflegte Gertrudes Fantasie wachzukitzeln, sie hätte nicht sagen können, warum, und ebenso wenig kann es ihr bescheidener Chronist.

Die Erzählerstimme ist also keine, die mit besonderer Autorität zur Beobachtung und Beurteilung der Lage ausgestattet wäre, sondern übernimmt nach eigener Aussage eine bescheidene Chronistenpflicht. Als Chronist hat er manchmal, aber auch nicht immer, einen privilegierten Einblick in das Innere seiner Figuren, wie das obige Zitat zeigt: Auch der Erzähler „hätte nicht sagen können, warum“ die Einsamkeit so anregend auf Gertrudes Fantasie wirkte. Tatsächlich – und vielleicht muss man sagen: bemerkenswerterweise – werden in Henry James‘ Die Europäer Alte und Neue Welt nicht gegeneinander ausgespielt. Es gibt am Ende keinen „Gewinner“ der Werte und der Gesinnung. Der sinnenfeindliche Puritanismus geht ebenso wenig als Sieger vom Platz, wie der Epikureismus der europäischen Besucher. Ob eine Vereinigung beider Geisteshaltungen einen dialektischen Fortschritt in sich birgt, erzählt, wie gesagt, der Roman nicht mehr. Was James‘ Die Europäer jedoch verdeutlicht, ist, dass die Vereinigung der Vereinseitigung entgegenwirkt. James lässt, zumindest in diesem Roman, offen, was geschieht wenn sich Alte und Neue Welt finden; aber er bringt in Die Europäer seine Überzeugung zum Ausdruck, dass sie sich kontinuierlich suchen.

Das schien seinem puritanisch gesinnten Bruder William James zu wenig, so dass er den Roman seines Bruders als „thin and empty“ abwertete, wo dieser ihn als „übersubtil und analytisch“ empfand. Nun leitet sich das Wort „subtil“ vom lateinischen „subtilis“ ab, was „fein gewebt“ bedeutet. Und das ist Henry James‘ Roman Die Europäer in seiner Unparteilichkeit, seiner Seelenforschung, seiner distanzierten Erzählhaltung und seiner oft humorvollen Schilderung des gegenseitigen Kulturschocks alle Mal. Möglicherweise rührt William James‘ ablehnende Haltung gegenüber Die Europäer daher, dass er darin seine eigene puritanische Einstellung und seinen vernunftbetonten Charakter zu sehr karikiert fand? „Vernunft,“ sagt Eugenia am Ende des Romans zu ihrem Bruder Felix, „ist deprimierend fade. Das ist eine Suppe ohne Salz.“

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