J.M. Coetzee: Die Kindheit Jesu (2013): Über Gott und die Welt

Djm-coetzee-die-kindheit-jesu-coverie englische Tageszeitung The Guardian hat eine Kolumne, die Digested Read heißt, was übersetzt so viel bedeutet wie „Verdaute Lektüre.“ Der Kolumnist John Crace stellt darin regelmäßig ein neues Buch vor (meistens einen Roman, aber auch Sachbücher oder Briefwechsel) – allerdings schon fertig verdaut, will heißen: Die Nahrungsaufnahme ist bereits erfolgt, der Magen hat das Buch bereits fertig zerlegt, die guten Nährstoffe in den Blutkreislauf geschickt, und die schlechten, unverdaulichen zur Ausscheidung freigegeben. So kann Crace einen mehrere hundert Seiten langen Roman auf nur einer einzigen Seite wiedergeben, also alles, was ihn nahrhaft macht. Crace hat auch den neuen Roman des südafrikanischen (bzw. inzwischen: australischen) Autoren und Nobelpreisträgers J.M. Coetzee verdaut: Die Kindheit Jesu (engl.: The Childhood of Jesus). Lakonisch lässt Crace darin David, eine der Hauptfiguren des Romans, sagen: „Isn’t it blindingly obvious from the title that this is a third-rate allegory?“ (dt. „Ein Blinder kann doch am Titel [dieses Romans] erkennen, dass es sich dabei um eine drittklassige Allegorie handelt.“) Diese humorvolle Aussage trifft den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf. Coetzees aktueller Roman, Die Kindheit Jesu, ist in der Tat nicht viel mehr als das: Eine drittklassige Allegorie mit unnötigem erzählerischem Ballast, die am Ende völlig ins Leere läuft.


Der Roman erzählt die Geschichte von Simon und David. Simon ist ein Mann im mittleren Alter (vermutlich irgendwo in seinen 40ern) und David ist ein etwa fünf oder sechs Jahre alter Junge. Beide sind auf einem Schiff in das nicht näher bezeichnete Land gereist, in dem die Geschichte spielt. Weder Ort (der Herkunft und der Ankunft) und Zeit sind näher präzisiert – und die Indizien scheinen eher angelegt, um Verwirrung zu stiften, als zu klären (z.B. wird in dem Land ausschließlich Spanisch gesprochen, was die beiden Hauptfiguren zu Beginn des Romans nur mäßig beherrschen). Der Junge war allein an Bord dieses Schiffes und Simon, nicht Davids Vater, nimmt sich seiner an.

Die Ankunft in dem neuen Land beginnt in einem Relokationszentrum, das durch seine unmenschliche Bürokratie eher dystopische Züge aufzuweisen scheint (der sog. Primäreffekt). Jedoch bessert sich die Situation der beiden schnell. Simon findet eine Anstellung als Dockarbeiter zum Be- und Entladen der Schiffe und David lernt bald Freunde kennen. Alle Menschen in diesem Land werden getrieben von einem Übermaß an Wohlwollen, das jedoch auf sektenhafte Weise sehr emotionslose Züge annimmt. so dass Simon sich nur schwer dieser Lebensweise anpassen kann.

Eines Tages sieht er auf einem Sportplatz eine junge Frau und ist von einer Sekunde zur nächsten fest überzeugt, dass es sich bei dieser Frau (Inés mit Namen) um Davids leibliche Mutter handelt. Er spricht mit ihr, erzählt ihr von seiner Überzeugung und bietet ihm die alleinige Vormundschaft über Simon an, was diese nach einigem Zögern auch annimmt. Auf diese Weise kommt Inés wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kinde (die eingangs erwähnte neutestamentliche Allegorie). Inés überfürsorgliche und gluckenhafte Erziehungsmethode sorgt dafür, dass der Junge schnell zu einem eigensinnigen Muttersöhnchen wird, der Schwierigkeiten hat, sich in die Gesellschaft einzugliedern und sich in Folge dessen immer weiter in seine Fantasiewelt zurückzieht. Simons Versuche, den Jungen aus dieser Welt in die wirkliche Welt zurückzuholen (absurderweise durch die symbolisch aufgeladene Lektüre von Don Quijote) scheitern.

Simons Entwicklung nimmt groteske Züge an, wenn er glaubt, Wunder wirken zu können, Tote vom Leben zurückzuholen, durch Stacheldrahtzäune wandeln zu können, die ganze Welt auf einmal sehen zu können und vieles mehr. Die Drittklassigkeit der allegorischen Lektüre, die Crace anspricht, wird in solchen peinlichen Details leider nur zu deutlich. Ja, David ist eine Art Jesusfigur und Coetzee will uns wirklich die Frage stellen, ob ein Jesus heute noch denkbar wäre oder nicht einfach nur als ein überdrehter und schlecht erzogener Jüngling erscheinen würde. Dass Coetzee die Frage nicht auch noch eindeutig beantwortet bleibt eine der wenigen positiven Dinge, die an diesem Roman festzustellen sind.

Als die örtliche Schulbehörde den kleinen David-Jesus in eine Art Internat für schwer erziehbare (bzw. für Kinder mit besonderer Begabung) stecken wollen, eskaliert die Situation und Inés beschließt, zusammen mit David und Simon das Leben von „gypsies“ zu führen (dt. „Zigeuner“): Auf der Straße, auf der Flucht. Und so endet der Roman kurz darauf im geographischen, erzählerischen und philosophisch-theologischen Nirwana.

Coetzees Die Kindheit Jesu ist ein Ärgernis. Insbesondere, da der Autor bereits vielfach sein feinfühliges Talent für komplexe Allegorien unter Beweis gestellt hat, etwa in Warten auf die Barbaren oder in Leben und Zeit des Michael K. Auch metaphysische Fragen hatte Coetzee in der Vergangenheit erfolgreich verhandelt (bspw. in Eiserne Zeit) und sensible Psychogramme alternder Männer gezeichnet (am überzeugendsten in seinem besten Roman, Schande). Das alles fehlt in der Kindheit Jesu vollständig. Statt dem gewohnten Ton des meisterhaften Romanciers zu lauschen, wirkt der Roman wie von einem wissenschaftlichen Universitätsassisstenten geschrieben, der sich gerade frisch durch die Philosophie der griechischen Antike gearbeitet hat. Oder wie ein Roman von Paulo Coelho

Hatten Coetzees Romane zuvor eine Art Freifahrtschein für den begehrten Booker Prize (er gewann ihn zwei Mal und landete mehrere Male auf der sog. Shortlist), erschein Die Kindheit Jesu 2013 nicht einmal auf der Langen Liste des Booker Preises. Die Rezeption in Deutschland hingegen fiel positiver aus – sicherlich weil die zeitgenössische deutschsprachige Literatur so mager ist, dass selbst ein schlechter Coetzee noch über den Durchschnitt heimischer Produktionen hinausragt). Statt der Lektüre von Coetzees Roman empfehlen wir lieber ein Buch mit beinahe gleichlautendem Titel: Jesus: Die Kindheitsgeschichten. Geschrieben hat es Benedikt XVI, für den es, ebenso wie für Coetzee, ein Alterswerk darstellt. Nur eben frischer. Und weniger drittklassig.

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