Bewusstseinsdarstellung im Roman

Bewusstseinswiedergabe im RomanJeder, der schon einmal einen Roman von Henry James gelesen hat, weiß, worum es bei Bewusstseinswiedergabe geht. Denn bei Henry James ist die äußere Roman-Handlung oft auf ein Minimum reduziert und dennoch sind James‘ Romane selten kürzer als 700-800 Seiten (wie z.B. in James‘ The Ambassadors). Was in den Romanen von Henry James passiert, das sind in erster Linie Bewusstseinsprozesse der Protagonisten. Dabei ist James jedoch eher am Ende einer Entwicklung anzusiedeln, die schon im frühen 19. Jahrhundert begonnen hat. In diesem Artikel geht es daher um die Arten von Bewusstseinsdarstellung im Roman. Zu zeigen sein wird, in welchem Maße die Mimesisfähigkeit (dazu unten mehr) verschiedener Formen von Rede- und Bewusstseinswiedergabe mit abnehmender Erzählerpräsenz ansteigt und wie dieses Verhältnis historische Entwicklungsstufen des Romans markiert.

1. Gedankenbericht (‚psycho-narration‘)

Zugegeben, psycho-narration ist kein besonders schöner Begriff. Er stammt von der Germanistin Dorrit Cohn (genauer: aus ihrem Buch Transparent Minds). Doch mit seinen zwei Begriffsbestandteilen „psycho“ und „narration“ kommt der Begriff dem Sachverhalt schon recht nah. Es geht um psychische Prozesse („psycho“), die von einem Erzähler wiedergegeben werden („narration“). Die Gedanken und Gefühle einer Figur werden ialso nicht direkt, sondern im Erzählerdiskurs wiedergegeben. Signale für diese Form der Bewusstseinsdarstellung ist das häufige Auftreten sog. verba credendi (dachte er, sagte sie im Stillen zu sich, vermutete er etc.)

In Erzählungen in der dritten Person Singular (third-person-narration) ist der Gedankenbericht ein Phänomen außenperspektivischen Erzählens (Erzählertyp nach Genette: unfokalisierter heterodiegetischer Erzähler). In Erzählungen in der ersten Person Singular (first-person-narration) hat der Gedankenbericht eher retrospektive als introspektive Qualität.


Dorrit Cohns Begriff der psycho-narration, den sie in enger Anlehnung an den des Gedankenberichts entwickelt, dient mehr noch als jener zur Wiedergabe der „vorsprachlichen Tiefen des Bewusstseins“ (Cohn 61). Im Erzählerdiskurs ereignet sich die Wiedergabe dessen, was die Figur zu denken entweder nicht bereit oder nicht fähig ist. Dadurch gelingt es, Bewusstseinsvorgänge, die sich jenseits von klar formulierten Gedanken bewegen darzustellen. In der Literatur ist das ein häufiges Stilmittel, um unklare Erinnerungen zu beschreiben. Diese sind eine Form von Bewusstsein, die dem erinnernden Subjekt nicht immer in aller Klarheit vor Augen stehen (frühkindliche Erinnerungen aber auch traumatische Erlebnisse, die verdrängt wurden) oder an sich das erinnernde Subjekt bewusst nicht zu erinnern versucht (unangenehme Erinnerungen).

Trotz dieses Lachens aber war ihm jedes Wort, als ob es ein Evangelium wär‘, in Erinnerung geblieben, vor allem das ‚ungeborene Lamm‘ und der ‚Frankrautsamen‘. Er glaubte nichts davon und auch wieder alles, und wenn er, seiner sonstigen Entschlossenheit unerachtet, schon vorher eine Furcht vor der alten Hexe gehabt hatte, so nach dem Gespräch über das Sichunsichtbarmachen noch viel mehr.
(Theodor Fontane, Unterm Birnbaum; meine Kursivierungen, E.K.)

2. Erlebte Rede (’style indirect libre‘)

Während der Gedankenbericht (psycho-narration) sich noch gänzlich innerhalb des Erzählerdiskurses ereignet, stellt die erlebte Rede vielmehr eine „‚Ansteckung‘ der Erzählersprache durch die Figurensprache“ (Stanzel 1979: 247f.) dar. Während die erlebte Rede mit der direkten Rede die Wortstellung gemeinsam hat, teilt sie mit der indirekten Rede die Verschiebung des Aussagesubjekts in die dritte Person. Hierbei ist nicht immer eindeutig zu entscheiden, ob es sich um ausgesprochene oder stumme Gedanken handelt.

Deiktische Zeit- und Raumadverbien, sowie affektive und argumentative Interjektionen (gewiss, jedoch), emphatische Ausrufe (ach!) und rhetorische Fragen sind häufige Signale für erlebte Rede. Im unten zitierten Beispiel von Jane Austens Emma ist es eine rhetorische Frage, die die erlebte Rede kennzeichnet. Die innere Gefühlswelt von Emma („sorrow came“) wird geschildert und von der Frage: „How was she to bear the change?“ abgeschlossen.

In der Literaturgeschichte gilt allgemein Jane Austen als die erste, die die erlbte Rede perfektioniert hat. Zwar gibt es vor Jane Austen bereits Fälle von erlebter Rede, Spuren davon lassen sich sogar bis in die literarische Antike zurückverfolgen. Aber Austen war die erste, die gezielt und systematisch von diesem Stilmittel Gebrauch machte. Die indirekte Rede war später im 19. Jahrhundert eins der bestimmenden Stilmittel zur Bewusstseinsdarstellung im Roman. Gustave Flaubert entging beispielsweise nur dadurch einer Verurteilung durch ein französisches Gericht, da er nachweisen konnte, dass die ehebrecherischen Gedanken seiner Protagonistin Madame Bovary nicht im authoritativen Erzählerdiskurs erzählt wurden, sondern in der erlebten Rede (frz.: style indirect libre), also mehr der Gedankenwelt von Emma Bovary angehörten.

Das Changieren zwischen den Diskursen wird deutlich, wenn man es sich grammatikalisch denkt. Gedanken können in direkter, indirekter oder erlebter Rede wiedergegeben werden.

  • In direkter Rede: Emma Bovary fragte sich: „Habe ich einen Liebhaber?“
  • In indirekter Rede: Emma Bovary fragte sich, ob sie einen Liebhaber habe.
  • In erlebter Rede: Hatte sie einen Liebhaber?

Grammatikalisch teilt die erlebte Rede also ihren Modus (den Indikativ und nicht den Konjunktiv) mit der direkten Rede. Die Verschiebung des Aussagesubjekts in die dritte Person („Habe ich einen Liebhaber“ (direkte R.) wird zu „…, ob sie einen Liebhaber habe“ (indirekte R.)) teilt die erlebte Rede mit der indirekten Rede.

Sorrow came—a gentle sorrow—but not at all in the shape of any disagreeable consciousness.—Miss Taylor married. […] She had been a friend and companion such as few possessed […] How was she to bear the change?
(Jane Austen, Emma; meine Kursivierungen, E.K.)

Wollte man diese erlebte Rede aus Jane Austens Roman umschreiben in direkte Rede, käme etwas heraus wie: „Emma fragte sich: ‚Wie soll ich die Veränderung nur ertragen?'“. In indirekter Rede würde der Satz zu „Emma fragte sich, wie sie die Veränderung ertragen solle.“ Der Reiz der erlebten Rede wird hier deutlich: Die Gedanken von Emma werden direkt innerhalb des Erzählerdiskurses wiedergegeben. Das Oszillieren zwischen Erzählerrede und Figurenrede lässt die Gedanken in einer Schwebe, die sich nicht selten auch inhaltlich wiederfindet. Im Beispiel von Emma ist es die Unsicherheit über die nahe Zukunft der Heldin, die in der Schwebe hängt und in der erlebten Rede ihren adäquaten Ausdruck findet.

3. Innerer Monolog

What's on a Man's Mind? Beim inneren Monolog werden die Bewusstseinsvorgänge einer Figur unmittelbar in einem dramatischen Modus, d.h. ohne erzählerische Vermittlung, wiedergegeben. Das Wegfallen jeglichen Erzählrahmens weist den inneren Monolog als einen extremen Grenzfall der Erzählung aus und Martinez und Scheffel weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Texte, die einzig im Modus des inneren Monologs gestaltet sind, in der Folge häufig auf dem Theater aufgeführt wurden (Martinez/Scheffel 2003: 61). Die Zahl literarischer Beispiele, die ausschließlich in einem inneren Monolog verfasst sind, ist klein. Häufig sind es auch kürzere Texte, Erzählungen und Novellen oder ein einziges Kapitel aus einem Roman.

Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl z.B. ist so eine kurze Erzählung, die komplett den Inneren Monolog wählt, um zu erzählen, was in Gustl vorgeht. Die Handlung ist auf einen kurzen Zeitabschnitt (vielleicht 12 Stunden) reduziert: von einem Besuch im Konzert bis zum nächsten Morgen auf den Straßen Wiens. Die Erlebnisse von Gustl werden direkt geschildert, als ob Gustl in einer Tour mit sich selbst sprechen würde. Daran, dass es sich aber um ein bloß gedankliches Selbstgespräch handelt, sieht man schnell die größte Schwäche des inneren Monologs: er vermittelt Gedankengänge und Bewusstseinsprozesse allein sprachlich. Sinnlich wahrgenommenes, das im Wahrnehmungsprozess selten nach-versprachlicht wird, muss im Inneren Monolog einen Verbalisierungsprozess durchlaufen, um für den Leser kommensurabel zu werden.

Was, ich bin schon auf der Straße? Wie bin ich denn da herausgekommen? – So kühl ist es… ah, der Wind, der ist gut… Wer ist denn das da drüben? Warum schau’n denn die zu mir herüber? Am End‘ haben die was gehört… Nein, es kann niemand was gehört haben… ich weiß ja, ich hab‘ mich gleich nachher umgeschaut! Keiner hat sich um mich gekümmert, niemand hat was gehört…
(Arthur Schnitzler, Leutnant Gustl)

Viele Spuren von innerem Monolog lassen sich v.a. in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu finden. Der Roman ist eine mehrere tausend Seiten starke Erinnerung des Protagonisten und Erzählers Marcel. Der innere Monolog ist ein zentrales Stilmittel für Marcels Suche nach der verlorenen Zeit.

4. Bewusstseinsstrom (‚Stream of consciousness‘)

James Joyce hatte schon immer viele Leser: auch Marilyn Monroe
Marilyn Monroe liest Ulysses von James Joyce

Da der innere Monolog von einer sprachlichen Ordnung bestimmt bleibt, Gedanken und Selbstgespräche jedoch oft unzusammenhängend erscheinen, favorisierten die literarischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts die freiere Form des Bewusstseinsstrom, der in erster Linie dem Prinzip der freien Assoziation verpflichtet ist. Hierbei wird oft die grammatische Logik durchbrochen. Ordnende Interpunktion fällt beim Bewusstseinsstrom häufig ganz weg. Gedankenzusammenhänge werden außeinander gerissen.

Die bekanntesten Vertreter dieser literarischen Technik sind James Joyce, der die Technik 1922 in seinem Roman Ulysses im 18. Kapitel (dem Molly-Kapitel) benutzte, um die wild durcheinanderlaufenden Gedanken von Molly Bloom zu schildern, die nachts neben ihrem Mann wach liegt und nicht einschlafen kan.

God I wouldnt give a snap of my two fingers for all their learning why dont they go and create smething I often asked him atheists or whatever they call themselves go and wash the cobbles off themselves first then they go howling for the priest and they dying and why why because theyre afraid of hell on account of their bad conscience ah yes
(James Joyce, Ulysses)

Weitere Vertreter dieses Stils sind Virginia Woolf (v.a. in Mrs Dalloway (1925) und To the Lighthouse (1927)), Dorothy Richardson (in Pilgrimage), Alfred Döblin in Berlin Alexanderplatz (1929) oder William Faulkner in The Sound and the Fury(1929).

Literatur:

Primärliteratur:

  • Austen, Jane: Emma. Herausgegeben von Fiona Stafford. Penguin Classics 2003.
  • Fontane, Theodor: Unterm Birnbaum. München: DTV 1997.
  • Joyce, James: Ulysses. Herausgegeben von Hans Gabler. Vintage Books 1986.
  • Schnitzler, Arthur: Leutnant Gustl. Frankfurt a.M.: Fischer 2001.

Sekundärliteratur:

Quellennachweise

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